Jahresausgabe 1998
Das Erbe
von Hans J. Gappert
Seit vielen Jahren verbringe ich die Ferien im Sommerschloß
des Barons von Münchhausen bei Hameln. In der Nähe des
Schlosses ist ein kleiner See in einer idyllischen Natur eingebettet.
Die Spaziergänge mit dem greisen Baron waren immer ein Genuß.
Ich konnte nie genug hören, wenn er seine berühmten Abenteuer
wieder aufleben ließ. Mit der Zeit entstand in mir ein Plan,
der immer mehr Gestalt annahm. Der Baron, dem ich am Abend davon
erzählte, hörte aufmerksam zu. Wir plauderten noch lange,
bis er schließlich ermüdet in seinem Sessel einschlief.
Da packte ich spontan mein Gepäck und machte mich auf den Weg.
Ich fuhr nach Frankfurt, buchte bei der Lufthansa einen Flug nach
London. In London brachte ein Taxi mich zum Hafen, ich buchte eine
Passage und schiffte mich ein. Das Schiff hieß "Freetown"
und fuhr an der Westküste Afrikas, der Elfenbeinküste
von Sierra Leone entlang. Der Kapitän wunderte sich, daß
meine Buchung nur bis hinter die Azoren lautete. Sicher hatte er
schon viel Merkwürdiges auf seinen Reisen erlebt und so kam
es, daß er nicht mehr aussprach, was er dachte. Von den anderen
Passagieren hielt ich mich fern, spazierte stundenlang auf dem Promenadendeck
auf und ab, denn es gab noch soviel, was ich bedenken mußte.
Darum kann ich nichts von den anderen Passagieren berichten, obwohl
darunter sicher interessante Gestalten waren. Nach einigen Tagen
hatten wir die Azoren fast erreicht. Die Fahrt bis dahin war ruhig
verlaufen, wenn man von der unruhigen See im Ärmelkanal absehen
will.
Überall waren kleine Boote zu sehen. Ihre Besitzer waren portugiesische
Fischer, die mit Angeln Thunfische fingen und mit den vorbeifahrenden
Schiffen einen lukrativen Handel betrieben. Sie tauschten Thunfische
gegen Spirituosen und Zigarettenstangen ein. Noch eine Tagesreise,
dann war es soweit, das große Abenteuer konnte beginnen. Ich
stand an der Reling, schaute in die Ferne und dann sah ich sie:
Eine Rotte Wale! Spontan ging ich auf die Brücke zum Kapitän
und bat ihn, für einen Moment das Schiff zu stoppen, da ich
nun von Bord gehen wolle. Der Kapitän konnte nicht sogleich
antworten. Ich glaube, ihm hatte es die Sprache verschlagen! Die
Matrosen und die Offiziere am Ruder grinsten ganz offen. Auch der
Kapitän lachte nun verstohlen und sagte: "Der Kunde ist
König!" Daraufhin lachten alle lauthals und liefen hinter
mir her, als ich mich eiligst zum Deck hinunter begab.
Es mußte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen haben. Der
Funker, die Stewards und die vielen Passagiere strömten herbei,
und folgten dem Schauspiel. Es durchbrach die Eintönigkeit
des Bordlebens und keiner wollte sich das verrückte Ereignis
entgehen lassen. Ich stellte mich leeseits an die Reling und packte
ein paar kleine Geräte aus. Viele Jahre haben Hans Hass, der
Tiefseetaucher und ich diese Geräte erforscht. Sie können
Schallwellen und Schwingungen empfangen und wiedergeben. So war
es uns gelungen, uns mit Walen, Tümmlern, Haien und anderen
Tieren zu verständigen. Geübt haben wir es viele Jahre,
aber an Fischarten standen uns in der Mehrzahl Delphine zur Verfügung.
Ich hatte die famose Idee, das Alphabet der Blindenschrift in Töne
und Schwingungen zu übertragen. Sicher brauchten wir einen
Sponsor und diesem möchte ich im entscheidenden Moment an dieser
Stelle Dank sagen. Es ist der Bankier Knut Winge in Oslo., der so
begeistert war, daß er uns eine Etage des Hotels KONA zur
Verfügung stellte. Aber auch eine Yacht und Forschungsreisen
nach Florida etwa, waren frei.
Ich stellte das Gerät ein. Mein Herz klopfte laut und beruhigte
sich erst, als die Skala Bewegungen anzeigte. Und sofort setzte
ich das Blindenmorsen ein. Auf einmal sprangen unzählige Tümmler
immer wieder an die Oberfläche und drehten Kreise um das Schiff.
Ich verstand sofort ihre Körpersprache. Sie freuten sich. Nun
drehte ich weiter an der Apparatur und die Wale, die vorher einen
großen Abstand hielten, sprangen aus dem Wasser, tauchten
unter und bewegten sich so auf das Schiff zu. Ihre gewaltigen Körper
wurden sichtbar. Die Passagiere und die Besatzung waren auf einmal
ganz still geworden. Eine Spannung wurde spürbar. Erstaunlich,
die Wale machten dem Kapitän Angst, er fürchtete wohl,
daß sie das Schiff beschädigen oder gar zum Kentern bringen
würden. Aber nein, die Wale kamen als Freunde! Ich mußte
mich jetzt stark auf die Sprache konzentrieren. Sie sagten: "Schön,
daß du da bist! Was können wir für dich tun?"
Ich morste ihnen meinen geheimen Plan und sie waren sofort begeistert,
gaben mir zu verstehen, daß ich nun aber meine Sachen nehmen
und von der Gangway herunterkommen sollte. Ich gab der Besatzung
ein Zeichen und diese schaute den Kapitän fragend an. Dieser
nickte nur, sein Gesicht sprach Bände! Irgendwie war es ein
tolles Gefühl, jetzt die Gangway hinunterzugehen und die fassungslosen
Blicke im Rücken zu spüren. Ich suchte mir den kräftigsten
Wal aus und verstaute mein Gepäck sorgfältig. Dann nahm
ich Platz und andere Wale kamen in Bewegung und gaben uns Geleit.
Wichtig war, daß ich immer sprachlich mit allen Walen in Verbindung
blieb. Meine größte Sorge war, daß die Geräte
durch das Seewasser Schaden leiden könnten. Wir unterhielten
uns prächtig und so konnte ich viel über das Meeresleben
erfahren.
Als sich mein Magen meldete, waren prompt unzählige fliegende
Fische in der Luft und landeten auf dem Rücken der großen
Meerestiere. Ich aß sie wie Krabben und dazu Algen und Muscheln,
die an den Körpern der Tiere zuhauf waren. Schnell war ich
satt und mir wurde klar, daß auch sie jetzt Hunger haben müßten
und dazu abtauchen müßten. Hui - da wurde mir angst und
bange. Sie wurden ganz aufgeregt und ich begriff sehr schnell, daß
sie lachten und sich über meine ängstliche Reaktion amüsierten.
Aber dann klärten sie mich darüber auf, was ich machen
sollte und ich setzte sofort ihre Vorschläge in die Tat um.
Aus der Lederscheide holte ich ein Seemannsmesser und schnitt in
die Haut des Wales ein großes Loch, durchtrennte die dicke
Fettschicht, so daß ich mich gut darin bewegen konnte. Ich
nahm Nadel und Zwirn, schlüpfte hinein, mit allen meinen Sachen
und nähte es von innen zu. So machten wir es in großen
Abständen immer wieder. Der warme Unterschlupf schützte
mich aber auch gegen Kälte, denn wir bewegten uns auf Halifax
zu. Als wir uns der Küste Kanadas näherten, verabredeten
wir, daß sie mich an Land setzen und zu einem bestimmten Zeitpunkt
uns wieder treffen sollten, denn ich wollte einen kurzen Abstecher
nach Alaska machen. Das Visum hatte ich schon in London erhalten.
Die amerikanische Botschaft war sehr entgegenkommend gewesen. In
mir war Freude und ich wollte allen Walen dank sagen und sprang
von einem zum anderen, gab meiner Freude mit den Händen Ausdruck.
Ich glaube, sie waren genauso berührt wie ich. So große
Tränen hatte ich noch nie gesehen!
So machte ich mich auf den Weg in den kleinen Ort an der Küste
namens "Pittsburgh" und eine Kneipe mit dem Namen "Gentleman-Inn"
beinhaltete wohl alles: Postamt, Friseur und Gerichtsbarkeit. Die
Gäste waren ganz schön erstaunt; da kommt ein Fremder
und es hat seit Wochen kein Schiff mehr den Hafen passiert. Sie
strömten alle fort, wollten das Schiff sehen, das so unerwartet
gekommen war. Denn vom Leuchtturm war kein Zeichen gekommen. Diesmal
stand mir der Schalk in den Augen. Zugleich ging ich zum Fernsprecher,
ließ mich mit Oslo verbinden. Hans Hass wartete schon fieberhaft
auf eine Nachricht von mir. Ich sprach Norwegisch, damit mich niemand
verstehen konnte. Der Wirt schielte zu mir hin, lauschte ganz unverhohlen.
Dann bat ich den Wirt, Freunde über das Funkgerät zu benachrichtigen,
daß sie mich mit ihrem Flugzeug abholen sollten, denn ich
wollte für vier Tage noch Alaska. An der Bar trank ich einen
kräftigen Rum oder auch zwei, bis es Zeit war, an die Küste
zu gehen, wo die kleine Maschine landen sollte. Ein Surren in der
Luft kündigte das Nahen des Flugzeuges an. Wir begrüßten
uns kurz aber herzlich. Denn wir wollten keine Zeit verlieren. Meine
Freunde unterhielten zwei Flugzeuge, um die Farmen zu versorgen,
die oft bis zu hundert Kilometer auseinander liegen. Sie sollten
viel über Europa wissen. So kamen meine Fragen zu kurz.
Als wir Alaska erreichten, mußten wir unsere Ankunft sowie
Namen und Daten durchgeben. Dann kam das O.K. Ich bat meine Freunde,
mich pünktlich wieder abzuholen, denn die Wale erwarteten mich.
Ein Sprung aus der Maschine und ich betrat den Boden Alaskas mit
meinem wenigen Gepäck. Zugleich holte ich meine Geräte
heraus und stellte sie ein. Stundenlang tat sich nichts und es war
bitterkalt. Ich machte mir Sorgen. Doch da eilten drei Eisbären,
ganz abgehetzt, herbei. Erst verstand ich nicht, was sie sagten,
sie schienen ganz aufgeregt. Ich umarmte sie ganz herzlich und sie
streichelten mit ihren Tatzen ganz zärtlich meine Wangen und
klopften ganz kräftig auf meinen Rücken. Ich vermittelte
den Bären, daß ich an einen großen Fluß Alaskas
möchte, wo Lachse so groß sind und Luft schnappen aus
Lebensfreude weit aus dem Wasser springen, daß man nur zupacken
brauchte. Aus diesem Grund habe ich nämlich keine Angel mitgenommen.
Sie sagten: "Kein Problem! Ein Tagesmarsch von hier ist ein
großer Fluß." Ein Bär trug mein Gepäck,
der andere mich und der dritte bahnte uns einen Weg durch den Schnee.
Sie wechselten sich ab. So hatte ich bald zu allen eine gute Beziehung.
Doch ein Bär war eine Bärin. Sie kam immer verdächtig
nahe und liebkoste mich mit ihren Tatzen. Irgendwo hatte ich gelesen,
daß nicht die männlichen Bären werben, sondern die
weiblichen und ich mußte lachen. Ich hatte eine Verehrerin!
So morste ich ihr, daß ich schon vergeben sei. Da schmollte
sie und hielt eine ganze Zeit Abstand von mir. Als wir den Fluß
erreicht hatten, war es spät und wir richteten uns zur Nacht
her. Die Bären nahmen mich in ihre Mitte und es war mollig
warm. Aber schlafen konnte ich nicht. Die drei schnarchten erbärmlich
aber doch interessant, da alle eine andere Tonlage hatten.
Die Nacht verging und wir sahen beim Aufwachen den Fluß. Was
sahen wir noch? Eine große Rotte Braunbären, die die
Lachse nur so in der Luft einfingen und unaufhörlich fraßen.
Es waren so viele Lachse da und doch gönnte keiner dem anderen
etwas. Sie kämpften und stritten sich und es war immer bitterer
Ernst. Wir marschierten hin und wurden von den Braunbären aufmerksam
aber feindlich empfangen. Ich drehte an meinen Geräten, aber
bei den Braunbären tat sich nichts. Wir zogen daher flußabwärts.
Sicher war sicher! Mein Morsen hatte eine andere Wirkung. Da kamen
Pinguine und begrüßten mich, boten mir ihre Eier als
Gastgeschenk an. Einen Tag später traf ein Rudel Wölfe
ein und zogen zu unserem Schutz einen Kreis um uns. Mit ihnen konnte
man sich gut unterhalten. Nur mußte ich mir Sorgen machen,
daß sie mit ihrem Heulen auch gleichzeitig alle Wölfe
Alaskas herbeiriefen. Es war der letzte Tag und sie verabschiedeten
mich, als ich wieder mit dem Flugzeug abflog, mit einem Geheul,
das die Fischerchöre weit in den Schatten stellte. Ich konnte
nur stumm winken.
In Pittsburgh hielt ich mich nicht lange auf, sondern ging gleich
zu den wartenden Walen. Das war richtig, denn die aufgeregten Einwohner
holten schon Harpunen. Na, diesen Leuten habe ich's aber gegeben.
Ich und die Wale machten, daß wir davonkamen. Jedenfalls war
ihnen diesmal nicht ein freundliches Bild von uns Menschen vermittelt
worden. Doch es dauerte nicht lange, und unsere gute Beziehung war
wieder hergestellt. Wir trieben auf Quebec zu, blieben außer
Sichtweite und steuerten Montreal an. Wir verabredeten, daß
wir uns nachts an Montreal vorbei in den St. Lorentz-Strom treiben
lassen würden. Das war toll! Denn überall wurde der Strom
von Lichtern angestrahlt. Die Schiffe ließen ihre Sirenen
heulen und die Glocken schlagen, als wir mit dreißig Seemeilen
an ihnen vorbeirauschten. Auf jedem Schiff war die Reling schnell
mit Menschen gefüllt, so daß die einseitige Belastung
die Schiffe zum Kentern zu bringen drohte. Ich stellte mir bildlich
vor, wie die Kapitäne der Schiffe fluchen würden. Meine
Wale hatten einen riesigen Spaß daran. Im Strom des Flusses
war eine Insel und darauf ein Schloß, für jedes vorbeifahrende
Schiff wurde in der jeweiligen Landesflagge ein Willkommensgruß
gegeben. Bei uns wurden sie verlegen! Aber als wir die Schleusen
hinter Toronto erreichten und die Wale drinnen waren, konnten diese
nicht genug bekommen von dem auf und nieder, das den Höhenunterschied
ausglich. Sie waren nur schwer herauszubekommen. Es war, als wenn
Kinder Aufzug spielten. Sie wollten einfach drinnen bleiben und
das Schleusenpersonal fluchte lautstark und rief unaufhörlich
nach der Polizei.
Da machten wir uns aus dem Staub. Zu spät: Denn den ganzen
Flußlauf entlang standen Trauben von Menschen. Sie klatschten
und winkten. "Greenpeace" stand auf den Schildern geschrieben.
Von ihnen nahmen wir einige an Bord, denn wir hatten bald Detroit
im Staate New York erreicht und ich mußte Abschied nehmen
von meinen Freunden. "Greenpeace" begleitete meine Wale
wieder zurück ins Meer und verbürgte sich für ihre
Sicherheit. Als ich sie zum Abschied alle umarmte und küßte,
drückten sie mir ein paar feuchte Schmatzer auf und diesmal
sagten sie, daß sie so große Tränen noch nie gesehen
hätten. Ich winkte ihnen lange nach und ihre Schwanzflossen
peitschten klatschend ins Wasser. Es war ihre Art, zu winken. Von
Detroit fuhr ich mit dem Zug nach New York zum Kennedy Airport.
Eine Lufthansamaschine brachte mich über Frankfurt nach Hamburg.
Ich hatte es eilig und nahm den nächsten Zug von Dammtor nach
Hameln. Der Taxifahrer kannte mich schon. Er lud schweigend mein
Gepäck ein und so fuhren wir zum Sommerschloß des Barons
von Münchhausen. Von außerhalb Hamelns strömten
viele Kinder der Stadt zu. Der Rattenfänger war wieder unterwegs,
aber das war eine andere Geschichte.
In der Eingangshalle des Schlosses angekommen, stellte ich das Gepäck
ab und ging leise in das Wohngemach des Barons. Der alte Münchhausen
schlief noch so in seinem Sessel, wie ich ihn am Abend zuvor zurückgelassen
hatte! Ich bereitete ein herrliches Frühstück, dann weckte
ich den Baron. Er aß mit Genuß sechs Brötchen,
und als er nach dem siebten griff, erzählte ich ihm, was mir
widerfahren war, während er geschlafen hatte. Er legte das
Brötchen zur Seite und wurde ganz still. Es schien mir, als
ob er mit Weinen und Lachen zugleich kämpfte. Dann aber stand
er ganz ernst aber feierlich auf, nahm mich hölzern und ganz
unbeholfen in den Arm und sagte: " Jetzt kann ich endlich Ruhe
finden. Du bist meiner würdig." Sprach's und lachte lauthals
los. Der Baron von Münchhausen.
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