Jahresausgabe 1998

Lesung mit Wolfgang Hermann aus Wien

 

Lesung mit Wolfgang Hermann aus Wien

Avola, Augusta, Catania und Syrakus - Wolfgang Hermann entwirft in seinem Prosagedicht "Schlaf in den Fugen der Stadt" sizilianische Städtebilder. Winter auf der größten Insel Italiens, das sind Nächte voll Nebel, das ist verlangsamtes Leben und immer wieder das Meer, das den Menschen Arbeit und Essen gibt. Dem flanierenden Beobachter entgehen weder die Langeweile, die Kälte und die harte Arbeit noch die kleinen Fluchten, in denen Wein und esoterische Sinnlichkeit die Begegnungen der Menschen in den Bars und Cafés bestimmen.
"Schlaf in den Fugen der Stadt" fügt die sizilianischen Tage in die Form des Gesangs. Wie in Stufen übersteigen enander die hellen Bilderfolgen der südlichen Welt.

Der Autor Wolfgang Hermann aus Wien gibt am Sonntag, den 31. Januar 1999, 11 Uhr, im Netanya-Saal im Alten Schloß, Brandplatz 2, in Gießen ein Gastspiel, und zwar in Reihe der
Matineelesungen, die das Institut für Neuere deutsche Literatur der Justus-Liebig-Universität Gießen, zusammen mit dem Kulturamt der Universitätsstadt Gießen und das LiteraturBüro Gießen veranstaltet.

Wolfgang Hermann: geb. 1961 in Bregenz; Studium der Philosophie in Wien; Promotion mit einer Arbeit über Hölderlin; seit 1987 freier Schriftsteller, längere Aufenthalte und Lesereisen in Japan und Korea. Lebt in Wien.
Auszeichnungen u.a.: 1987 Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung; 1992 Theodor-Körner-Preis; 1992/93 Österreichisches Stipendium für Literatur; 1993 Romstipendium des österreichischen Ministeriums für Kultur.
Veröffentlichungen: Das schöne Leben (1988); Die Namen Die Schatten Die Tage, Prosa (1991); Mein Dornbirn (1991); Die Farbe der Stadt, Roman (1992); Paris Berlin New York: Verwandlungen (1992); Schlaf in den Fugen der Stadt, Gedichte (1993); In kalten Zimmern, Erzählungen (1997).

Leseprobe:

Schiffe kommen und mit den Schiffen kommen
Männer an Land, gewohnt an das Leben auf
Brücken und Inseln, gewohnt an die
Motoren auf den Laderampen und an das
Öl von den Zugmaschinen und an den geräucherten
Fisch, den sie abends in Kaschemmen am
Hafen verschlingen mit dem schäumenden Wein
von den Bergen Iblei und dem klaren Schnaps
von den nördlichen Inseln. Solche Männer
steigen aus dem müden Schiff, sie steigen
über die Laderampe und geben Handzeichen
für die Griffe mit dem langenSeil und für
die Zugmaschinen und die Wagen mit den
Eisenrollen und für die Lastzüge. Und über
den Laufsteig kommen müde Menschen,
bleich, mit dem Salz auf der Zunge und mit
dem Koffer an der Hand, manche von denen
werden an der Hafenmauer erwartet mit

unruhigen Augen, ihre Stimmen sind stumm
seit das Schiff angelegt hat und die Augen
sind geöffnet und die Köpfe liegen im Nacken
und die Augen gehen an der Reling des
Schiffes hin und her, bis sie den Erwarteten
gefunden haben, dann lassen sie ihn nicht
mehr los, nur manchmal sehen sie nach ihren
Schuhen, aber sie sehen die Schuhe nicht,
es ist nur für die größere Freude, wenn der
Blick zurückkehrt an die Reling des Schiffs.
All das und noch viel Unsichtbares geschieht
wenn das Schiff kommt und Menschen
zu den Menschen bringt und Güter zu den Gütern,
die in die Stadt kommen und in der Stadt
bleiben zum Trost und zur Verminderung der
Langeweile, die gro´ist im Winter in der Stadt.
Die Menschen verstehen nicht enger zusammen-
zurücken, doch sie sprechen und sie weben fort

am dünnen Stoff ihres Lebens und sie sorgen
für sich und die Ihren solange der Tag reicht,
dann reichen sie sich die Hände und sie geben
die Obhut über ihr Leben ab an einen Gott und
seine Heiligen, die sie in Bildern und Statuen
verehren und in Notzeiten und auch im
Überfluß um Schutz und Beistand anrufen.
Auf der Straße küssen sich die Menschen und
Kinderhände greifen nacheinander und
Erwachsenenhände greifen nach dem Rad das
Einen Wagen lenkt und sie greifen nach dem
Brot das ein Bäcker reicht und sie greifen nach
anderen Händen in die sie ihr Hautgefühl legen
und sie nenne es Leben und sie tragen es bei
sich und sie tragen mitsamt ihren Schuhen und
den Hosen und den Hemden das Gefühl bei sich
das sie haben und das sie nicht verschenken
wollen um keinen Preis in der Welt.

Auf den Dächern winken und singen die kleinen
Vögel die im Winter auf diesen Dächern sitzen
und im Sommer auf den Dächern im Norden und
es sind die gleichen Vögel sie heißen Singsang
und sie heißen Tunichtgut und sie heißen
Vergißmeinbild und sie singen wie sie heißen
und ihr Name ist der Name der Lieder die sie
singen wenn sie singen. Und die Vögel heben an
zu singen bei Morgengrauen und sie verstummen
wenn die Sonne hoch steht und sie heben an zu
singen bei Sonnenuntergang und sie versammeln
sich in den Bäumen an der Uferpromenade und
sie neigen ihre Köpfe in den Bäumen, die Zypresse
und Fico und Steineiche heißen und deren Blätter
hart sind und immergrün und sie wohnen in den
Bäumen abends und nachts und sie nennen sie
ihre Häuser und die Häuser sind gut und sie
spenden den Schatten und sie bergen den Wind

und das Salz vom Meer und sie stehen wo
sie stehen.

Wolfgang Hermann: Schlaf in den Fugen der Stadt. Salzburg-Wien 1993.