Jahresausgabe 1999: Schwerpunktthema Polen

Auf deutschen Spuren in Lódz

von Nikola Herweg


Mit wenig Geld, dafür Ideen und Talent, waren sie ins Land gekommen, deutsche Handwerker, denen das eigene Land keine Perspektive bieten konnte und die der Einladung der polnischen Regierung gefolgt waren. Blühende Landschaften hatte man ihnen versprochen und sie wurden nicht enttäuscht: Mit polnischen Subventionen, jüdischem Kapital und deutschem Know-How wuchs Lódz im 19. Jahrhundert schnell zu einer Textil-Metropole heran, zu einer Stadt in der - glaubt man den Erinnerungen und Quellen - Polen, Russen, Juden und Deutsche friedlich nebeneinander lebten - wobei die Deutschen mit einem Bevölkerungsanteil von etwa 40% den Ton angaben und das Stadtbild nachhaltig prägten.
Viele Jahre, Generationen, politische Systeme und Kriege sind seitdem über die Stadt hinweggegangen, längst ist der Anteil der Deutschen zu einer aussterbenden Minderheit geschrumpft, doch die Spuren der Väter und Grossväter haben die Zeit überdauert: in Form von Kirchen und Fabriken, Villen und Spitälern, im Strassenbahnnetz, das einst von einem Deutschen entworfen wurde; man findet sie in den Antiquariaten, in vergilbten Büchern und Exemplaren der ehemaligen deutschen Zeitung; aber auch in Romanen, die heute noch aufgelegt werden, wie etwa Reymonts "Das gelobte Land" ("Ziema Obiecana", 1897/98).
Dieser Roman, der auch die düsteren Seiten des "polnischen Manchesters", die Unterdrückung der meist polnischen Arbeiter im Kapitalismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts beschreibt, lieh einem Projekt der Universität Lódz seinen Namen: "Auf deutschen Spuren im 'Gelobten Land'". Unter der Leitung der Germanistik-Dozentin Krystyna Radziszewska sammelten polnische Studenten Spuren, Hinweise, Quellen und Erinnerungen und publizierten 1998 einen deutsch-polnischen "Reiseführer" in die Vergangenheit. Die materiellen Zeugnisse der einstigen Blüte standen dabei im Mittelpunkt, die Stätten der Arbeit, des Vergnügens, des Alltags und des Todes, Fabriken, Theater, prächtige Stadtpalais und schließlich auch die Friedhöfe, in Bild und manchmal etwas zu knappen Texten.
Das ist eine Art der Spurensuche, eine oberflächliche. Eine andere entführt den Leser in Archive, in denen alte Akten, längst überholte Schulbücher und die oben erwähnte deutsche Zeitung lagern. Diese zu untersuchen, zu sortieren und zu filtern, bemüht sich derzeit die Projektgruppe. Das Resultat, ein Band über Zeitungs- und Schulwesen der Deutschen im Lódz des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts wird voraussichtlich nächstes Jahr erscheinen.
Neben all diesen Spuren in Schrift und Stein, darf man die wohl unzuverlässigste, aber vielleicht auch spannendste Quelle der Vergangenheit nicht vergessen: die Erinnerung. Und so wie Erinnerungen nun mal subjektiv und manchmal betrügerisch sind, so haben etliche Deutsche und ehemals deutsche Polen, die allesamt Anfang des Jahrhunderts im damals noch multikulturellen Lódz lebten bis der Krieg sie zerstreute, ihre ganz persönliche Sicht auf "ihre Stadt" zu Protokoll gegeben. Verschiedene Menschen, aus verschiedenen Schichten, mit verschiedenen Schicksalen und verschiedenen Blickwinkeln, doch alle sind sich einig: Lódz war ein guter Ort, um aufzuwachsen.
Krystyna Radziszewska (Hrsg.): Niemieckimi sladami po "Ziemi Obiecanej" = Auf deutschen Spuren im "Gelobten Land". - Lódz: Literatura, 1997. - 208 S. : Ill. Text poln. u. dt. ISBN 83-87080-43-8