Jahresausgabe 1998
Neue Lesereihe in Gießen
von Hess Paul
Ein Blick in den Express zeigt, was Gießen
als Stadt nicht wahrhaben will: das dünne Kulturangebot in
dieser Stadt, das sich mit dem von bspw. Marburg nicht messen kann.
Nun nennt sich Gießen selbsteinschätzungshalber allen
Ernstes "Kulturstadt an der Lahn", für Außenstehende
eine der typischen Provinzpossen, wenn Gießen für das
Attribut Provinz dann nicht doch ein bißchen zu groß
wäre. Gießen statt Kultur möchte einem leichter
über die Lippen kommen. Nun ja. Die kulturelle Plage Gießens
ist das Stadttheater, dieses Symbol bürgerlichen Gemeinsinns,
dieses absolutistische Kleinreich auf dem finanziellen Gipfel im
flachen See der übrigen Kulturförderung. Es bleibt nicht
viel übrig für andere Initiativen neben dieser Finanz-oase,
die zwangsläufig ihr Umland trockenlegen würde, gäbe
es nicht Idealisten und Privatinitiative. Ihr, der städtischen
Bühne, sei zugutegehalten, daß sie mit nicht allzu aneckenden
Inszenierungen auf einer publikumsbreiten Basis stockt. Damit ist
sie im Zeitalter der knappen Haushalte ihr Geld wert, obwohl sie
dennoch Zehntausende von D-Mark im Jahr verschlingt.
Doch diese bestenfalls geschmacksbedingte grüne Oase befände
sich in einer Wüste, wenn allein die Förderung der Stadt
Gießen das Kulturangebot produzieren würde. Kultur nebenher
und vielleicht auch weniger bekannt findet überwiegend durch
Privatinitiative statt, Zuschüsse, so sie freigegeben werden,
sind hart "erarbeitet". Auch diese Ausgabe der SHANGHAI
Opera geht auf Privatinitiative zurück. Daß in diesem
Jahr nur eine erscheint, liegt wiederum daran, daß der Stadt
eine solche Initiative ganze 2000 Mark per annum wert ist, was nicht
einmal die Druckkosten für eine Ausgabe deckt.
Vor zirka zwei Jahren sammelten sich einige Aktive der Gießener
Literaturszene und versuchten, die zerstreut, unkoordiniert und
vereinzelt stattfindenden literarischen Aktionen zu bündeln,
ein Forum für AutorInnen und Literatur zu gründen. Dem
ging die eher unbeachtete Gründung des LiteraturBüros
Gießen voraus, das im November 1996 die Erstausgabe der SHANGHAI
Opera herausbrachte. Zwei Monate später fand die erste Lesung
im Café Schwarz statt, deren Initiative und vor allen Dingen
Aufrechterhaltung durch Personen aus der damaligen SHANGHAI-Redaktion
zuwegegebracht wurde. Damit hatte Gießen zwei parallele und
- trotz personeller Überlappungen - unabhängig voneinander
agierende literarische Foren, die SchriftstellerInnen die Möglichkeit
gab, in gedruckter Form oder durch eine Lesung vor Publikum zu treten.
Hatte. Im Februar dieses Jahres wurde die Lesereihe im Café
Schwarz eingestellt, bereits zwei Monate zuvor war die bis zum Erscheinen
dieser Zeilen letzte Nummer der SHANGHAI Opera erschienen. Zwar
gab und gibt es nach wie vor diverse literarische Zirkel, aber der
vielversprechende Anfang eines kontinuierlichen Motors der Gießener
und darüber hinausgehenden Literaturszene war damit abgesoffen.
Es passierte nichts mehr, zumindest nicht viel. Die Literaturzirkel
veranstalteten so dann und wann ihre Lesungen, EinzelautorInnen
hatten diese Möglichkeit nicht und schwiegen. Das wenige hatte
zufälligen Charakter.
Nun schickt es der Zufall erneut, daß mit einer weiteren Ausgabe
der SHANGHAI Opera in ungefähr zeitgleich eine neue Leserreihe
in Planung ist, die sich nichts schert um Literaturzirkelzugehörigkeit
oder nicht. Da die finanzielle Zukunft der SHANGHAI in den Sternen
steht, ist zu befürchten, daß dieses Zusammentreffen
ein punktuelles bleibt. In der Natur der Lesereihe dagegen liegt
ihre Unabhängigkeit von öffentlichen Geldern, was auf
eine zumindest mittelfristige Durchführbarkeit hoffen läßt.
Hier braucht kein allzu hoher finanzieller Aufwand betrieben werden.
Betont werden muß allerdings nochmals, daß sich diese
Veranstaltung noch im Planungsstadium befindet, weswegen ich allen
AutorInnen, die jetzt ihr Herz höher schlagen fühlen,
weil sie gerne eine Lesung halten würden, an dieses pochende
Herz legen muß, mit Interessebekundungen oder gar Materialeinsendungen
bis Anfang Dezember zu warten. Aber der Reihe nach.
Im Gegensatz zur Lesereihe im Café Schwarz, die samstags
auf den Zeitraum von 1300 bis 1500 Uhr limitiert war, findet die
neue Literaturveranstaltung in der Brezel im Riegelpfad statt. Wiederum
werden die Lesungen an Samstagen stattfinden, allerdings auf den
für viele wohl günstigeren Abend verlegt. Beginn soll
etwa um 1800 Uhr sein. Die Lesungen können sich über eine
Stunde erstrecken, wonach noch eine weitere Stunde für ungestörte
Diskussionen verbleibt. Anschließend eröffnet die Brezel
dann offiziell, was für die literarisch Interessierten keine
weiteren Konsequenzen mit sich bringt, denn die: im normalen Abendpublikum
aufzugehen. Wer sich eine trinkfreudige Fortführung des angebrochenen
Abends wünscht, befindet sich gleich im richtigen Ein-Glas-Bier-Geschäft.
Für die Lesungen wird Eintritt erhoben, der anteilsmäßig
aufgeteilt wird zwischen dem Veranstalter und der Autorin, dem Autor.
Das erscheint mir fair, wenn dabei auch erfahrungsgemäß
keine großen Summen die Besitzer wechseln werden. Besser als
ein feuchter Händedruck ist es allemal. Kultur/Kunst darf und
soll etwas kosten - und soll dem Kultur-/Kunstschaffenden etwas
einbringen. Letztlich handelt es sich um Leistungen, die erbracht
werden, hinter denen Arbeit steckt und die honoriert werden müssen.
Die Kultur als Bittstellerin, dem Bild hänge ich nicht an,
diese Rolle kommt ihr nicht zu. Das als kleiner Ausflug zu den Hintergründen
der Eintrittnahme, denn tatsächlich kam es im Café Schwarz
vor, daß BesucherInnen wissen wollten, warum und wozu überhaupt
und mit welchem Recht Eintritt verlangt würde. Die nur kleine
finanzielle Ausstattung dieser Veranstaltung erlaubt keine Einladung
bekannterer AutorInnen, für die DM 300 bis 400 pro Lesung aufzubringen
wären. Das ist aber auch gar nicht der Sinn dieser Reihe. Der
liegt explizit darin, AutorInnen egal welchen Bekanntheitsgrades,
egal, ob einem Literaturzirkel angehörig oder nicht, die Möglichkeit
zu geben, vor mehr oder weniger unbekanntes Publikum zu treten,
um sich dieser Konfrontation zu stellen. Organisatorische Fragen
werden ihr/ihm dabei weitestgehend abgenommen. Dafür wird natürlich
eine Vorbereitung der Lesung erwartet und vorausgesetzt.
Im Vordergrund steht immer der literarische Aspekt. Das schließt
Kombinationen von Literatur mit Musik, Geräuschen oder Bildern
(z.B. Dias) keinesfalls aus, auch szenische Lesungen sind möglich
oder Lesen mit verteilten Rollen. Multimediaspektakel sind allerdings
nicht zu realisieren. Solche über die reine Lesung hinausgehenden
Ideen müssen im Vorfeld abgesprochen und ihre (unter Umständen
nicht immer mögliche) Realisierung abgeklärt werden. Für
die Texte gibt es keine Einschränkungen. Ob reine Lyriklesung,
ausschließlich Prosa, gemischte Lesung oder experimentelle
Texte, das spielt keine Rolle. Im Vordergrund stehen nicht die Einnahmen
durch möglichst breite Publikumsansprache. Ein Verprellen der
ZuhörerInnen durch zu anstrengende Texte muß als Risiko
in Kauf genommen werden. Erfreulicherweise zeigt aber auch hier
die während der Café Schwarz-Lesereihe gewonnene Erfahrung,
daß sich das Publikum nicht so leicht verprellen läßt.
Nur vor eine Art von Literatur wird ein Riegel geschoben: bei distanzlos
verfaßter Selbsterfahrungsliteratur. Solche Texte werden im
Regelfall tatsächlich abgelehnt.
Kontakt:
Hess Paul
Schwarzlachweg 18
35390 Gießen
0641/394537
Paul.Hess@bio.uni-giessen.de
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