Jahresausgabe 1999:

EHErwarten

von Hess Paul

 

Gießen, Okt. 1998 - Nov. 1999
"Laß uns heute endlich mal spazierengehen. Die Kinder wollen dich mal wieder sehen." Fordert sie mit wenig Hoffnung im Hinterkopf, und fordert es gar nicht für sich, das schon seit geraumer Zeit nicht mehr, sondern tatsächlich für die Kinder, die auch die seinen sind. Es ist Sonntag, und er sagt einfach nur "Okay. Heute ist Sonntag, warum nicht?". Die Verblüffung von ihrer Seite: bemerkt er wohl. Denn eigentlich bedarf es stets Argumente, um mit ihm noch gemeinsame Freizeit zu verbringen. Das ist erkämpfte Zweisamkeit. Seit die Kinder da sind Viersamkeit. Die Argumente: erreichen oft auch nichts.
Sie bleibt verwurzelt im Rahmen stehen und blüfft noch wie verdattert. Er hat sich wieder dem Bildschirm zugewandt, Rücken zu ihr, zur Tür, aber sieht noch deren helle Fläche sich matt scheiben auf dem Frontglas des Monitors als Spiegel und freut sich über den Überraschungseffekt, den er genießt. Sie stockt noch ein Aber, dann schließt sie das hellholzig beklinkte Brett, er kann es sehen, ohne hinzusehen. Draußen bleibt sie stehen mit der Hand noch an der Klinke. Die sie ein weiteres Mal drückt, um zu fragen: wann? Eine halbe Stunde noch, dann müßte er fertig sein, "dann bin ich fertig ungefähr".
Eine halbe Stunde also. Der Fünfjährige muß eingekleidet werden mit Schuhen, Jacke, Mütze, denn es ist Herbst, sonnenheller Nebel, zwar Sonne, doch Nebel, also kalt. Er will weiterspielen im Kinderzimmer, dagegen spricht nichts, das macht es auch leichter, die Kleine einzupacken. Die Kleine: drei Jahre alt, kommt in den Kinderwagen, so gut laufen kann die noch nicht. Aber ein wenig eben doch, das Wohnzimmer auf und ab manchmal, wenn sie ihren Gedanken nachhängt, die Kleine, was immer sie auch denkt, aus der wird etwas Besonderes. Die Mutter ist sich sicher. Wie auch immer, in den Kinderwagen muß sie doch.
Die halbe Stunde ist um, wo bleibt er wieder? Also raucht sie noch eine Zigarette, den Kinderwagen schaukelt die andere Hand ganz abwesend. Die Kleine stört sich nicht daran, der Qualm weht über sie hinweg, die sich nuckelt in zufriedene Schläfrigkeit. Das hat leider nicht geklappt, diese Sucht abzulegen, trotz zweier Schwangerschaften, woran ihr nie wirklich gelegen war: an Aufgabe Sucht. Sie konnte es immer nur für die beiden Male sehr neuen neun Monate lassen, ohne große Entzugserscheinungen, die machten ihr kaum Probleme, von Natur aus war ihr Körper da ganz gut eingerichtet. Aber sofort nach der Geburt hatte sie Lust auf eine Zigarette, auf die Zigarette danach sozusagen, nach der Geburt nämlich, am liebsten hätte sie sich die im Kreißsaal noch in die Erschöpfung geraucht. Und gestattete sich nur drei am Tag, solange sie stillte. Das war nervenaufreibend, weil zur Belastung durch Haushalt und frische, respektive neuerliche Mutterschaft die der ungestillten Sucht kam, die nicht aus ihren Gedanken weichen wollte, selten nur. Oft beneidete sie die Kinder, die an ihren Brüsten lutschten und sogen im Vergehen der Monate, während sie oral unbefriedigt blieb. So kostete sie selbst von ihrer Milch, dafür waren ihre Brüste reich und groß genug. Das stellte sie für kurz zufrieden, war auch lustvoll erogen zoniert, doch brachte nicht die gewünschte Befriedigung. Der Drang zur Zigarette blieb. Dies Schicksal sollte den Kleinen erspart bleiben. Und ihre Brüste gaben Milch die Fülle, so daß der Kleinen Bedürfnis nach Hungerstillung zugleich mit dem der Nähe zufriedengestellt werden konnte. Und das: war dann doch wieder schön. Sie hatte Augenblicke des Glücks, nicht des allgemeinen Glücks, aber des Mutterglücks, und strahlte dann, ohne es zu merken, selbstvergessen: strahlte sie dann. Dazu mußten nicht die Säuglinge an ihr hängen. Sie betrachtete sich oft im Spiegel, ihren durch die Schwangerschaften veränderten Körper, den gestriemten Bauch, leicht cellulitische Veränderungen am Po, den Schenkeln, die größer gewordenen Brüste, die neubläulichen Adern darauf, die seither leicht angesteift bleibenden Brustwarzen. Ihre Mann war oft nicht da, meistens: war er nicht da. So hatte sie viel Zeit für sich und nutzte die beizeiten, wenn die Kleinen Ruhe gaben: masturbierte sie. Wie gesagt, sie blieb unbefriedigt.
Abends, wenn die Kinder im Bett lagen und sie däumlings in die Aussicht lutschten, dort auch zu bleiben, genehmigte sie sich ihre erste Zigarette. Sie wollte ihrem Körper die Möglichkeit geben, das Gift über Nacht abzubauen und steckte sich die zweite und dritte an in kurzem Abstand. Manchmal gönnte sie sich ein Pils und rauchte dazu, weil zu dem Geschmack von Bier unabdingbar der einer Zigarette gehörte, während sie Musik hörte: rauchte sie am liebsten. Trotzdem mußte sie nächtens oft stillen, und so war es ein eigentlich fauler Kompromiß, das mit dem Giftabbau, und war es auch nur selten zu dem Feierabendbier gekommen bis vor eineinhalb Jahren noch. Aber die wenigen Male, die sie es getan hatte, um als Mutter Mensch zu bleiben zwischendurch, um sich Pausen des Genusses zu stehlen mit schlechtem Gewissen mehr oder weniger, hatten den Kindern nicht geschadet, ihre Kinder würden, soweit sie das beurteilen konnte, keine Beeinträchtigungen davontragen. Auch Ärzte bestätigten selbiges. Nun genoß sie diese Momente der Erholung und des kurzen Glücks öfter.
Unter Langeweile hatte sie nicht zu leiden, die Kinder hielten sie auf Trab. Zuerst das erste, aber anstrengend wurde es so richtig mit dem zweiten. Sie hätte sich mehr Unterstützung durch ihren Mann gewünscht, aber der verdiente das Geld und verdiente das nicht wenige anstrengend und wies ihr Anliegen daher begründet zurück, ihr Anliegen nach Unterstützung in Fragen und Praxis der Erziehung. Nicht ohne ein Kindermädchen vorzuschlagen, dafür hätte er Geld zur Verfügung gestellt, gerne sogar, ein guter Vater, das erkannte sie bald, ohne Gefühlszuwendung zu den Kleinen, dafür seiner Verantwortung materiell nachkommend, sie erledigend, sich ihrer entledigend. Darunter litt sie und fühlte sich auch im Stich gelassen, aber sie gewöhnte sich an die Umstände, sie konnte kaufen für die Kinder, was notwendig und manchmal auch nicht notwendig war, so fügte sie sich: dem, was ihr zum Leben wurde, all die Tage der Jahre über. Entgegen kam ihr dabei, daß beide Kinder nicht schwierig waren, wie lebendige und aufgeweckte oder rebellische Kinder oft genannt werden, und wuchsen ohne schwerere Krankheiten.
Sie war nicht unzufrieden. Bei Gelegenheit betrachtete sie sich nackt im Spiegel und fand ihren Körper gereift. Mit dem kam sie zurecht. Sie fand ihn sogar attraktiv.

Und wohl auch ihr Mann, als er an einem Dienstagnachmittag verfrüht nach Hause kam und sich in sein Arbeitszimmer schleichen wollte, doch auf dem Weg dorthin über den Flur hinweg und durch die halboffene Schlafzimmertür seine lange nicht mehr besehene Frau sah: und zwar nackt, als sie ihrem Körper auf der Bettkante sitzend versonnen nachspürte. Es war ihm peinlich und unangenehm, doch erregte ihn, was ihn noch stärker konfrontierte mit verkümmertem Innenleben, verhaktem Eheleben, so daß er sich der Erregung erwehrte, die ihm eh nicht zwischen die Beine fuhr, sondern im Kopf stand, entstand, ohne sich auf den Weg zu machen. Das: ließ sich nur alleine machen, weil es der Anonymität bedurfte. Oder aus dem überlegenen Gefühl pekuniärer Potenz heraus, wo es schon mit der anderen oft haperte. Und so schlich er rasch weiter und schloß die leise Tür des Arbeitszimmers: leise. Aber die Augen in seinem Inneren konnte er nicht verschließen und ihr Bild blieb da stehen, in ihm vor ihm, wo das Dunkel des mattierten Computermonitors plötzlich mit einem Bett eingerichtet wurde, auf dem seine Frau saß, nackt: saß sie da. Er hatte sie nicht mehr wahrgenommen, sie war zur Mutter seiner Kinder geworden, die Konversation gewohnheitsmäßig, ritualisierter Austausch, Konventionen gesellschaftsgebunden, ohne Körperlichkeit, ohne Zärtlichkeit, denn die des morgendlichen Abschiedskusses, abendlichen Begrüßungskusses, wenn er ging, wenn er kam von der Arbeit, um von Kuß zu sprechen, von Zärtlichkeit, rasch hingehaucht mit dem Blick abwesend schon auf den Herd gerichtet und was darauf dampfte, ohne Wahrnehmung, ohne: Wahrnehmung.
Und insgesamt ohne Reibung, alles lief glatt im Durchschnitt, denn sie kam ihrer Mutterschaft mit Hingabe nach anscheinend und forderte nur manchmal Bedürfnisse ein, die er ihr gewährte, sofern es in seiner Macht stand, doch in der stand nicht viel, sie war materieller Art, nicht wirklich viel. So war die Verteilung und war so gewünscht von ihm. Doch seine Frau lebte in ihm entzogenen Zeiträumen, die es gab, das hatte sich ihm aus dem Bewußtsein geschlichen. Wie sie da auf dem Bett saß und sich nachspürte, mußte sie leben, wie konnte er das vergessen haben, "wie konnte ich so sicher sein!". Und erinnerte sich mit Vehemenz jetzt an längst vergrabene Bilder einer Verliebtheit, die er mit seiner Person in Zusammenhang brachte, was ihm kaum glaublich erschien: die Innigkeit damals, die Person damals, die er gewesen sein soll. Er sah seine Frau nackt, ohne daß sie ihn sah, und dieser Anblick rüttelte an ihm, rüttelte etwas wach in ihm, Verlangen nämlich, das nach den beiden durch Bettgemeinsamkeiten gezeugten Kindern, Bettgemeinsamkeiten bezeugenden Kindern also, allmählich und nachsichtig abhanden gekommen war. Da sie in ihm zu leben begann, konnte er nicht umhin, sie als lebendig zu betrachten. Wie mochte es beschaffen sein, ihr Leben? Das wußte er nicht, woher sollte er wissen, was ihn lange nicht bekümmert hatte? Was gäbe es zu entdecken, falls es etwas zu entdecken gäbe? Er richtete sich auf in seinem Schreibtischstuhl, weil er sich bereits gebeugt hatte zum Schalter, aber es nicht über sich brachte, den Computer hochzufahren, die Hand wie automatisch. Er hing sich nach. Und hätte sich fast vergessen. Doch dann schreckte er hoch, stand auf und plötzlich in der Schlafzimmertür, er nahm sich wahr, wie er sich zusah. Dabei: saß dort seine Frau nicht mehr auf dem Bett. Seine Erinnerung rastete nicht ein in der Gegenwart, was sie seiner Meinung nach aber unbedingt hätte tun sollen. Enttäuscht stand er da und wartete auf eine Idee oder wenigstens ein Geräusch. Da er nichts hörte, hörte er wenigstens auf einen Einfall, den nämlich, sein Kommen anzukündigen. Also zurück zur Haustür, die geöffnet und geräuschvoll zugestoßen. Nichts. Das war ihm nicht mehr geheuer und so patrouillierte er durch die Wohnung und suchte die Zimmer ab, wollte das tun, entdeckte seine Frau allerdings gleich in der Küche, die aufschreckte wie aufgeschreckt aus einem Tagtraum und überrascht war von seinem verfrühten Erscheinen. Jetzt war ihr Körper wieder verhüllt, aber er hatte gesehen, was er gesehen hatte und noch nicht vergessen. Leider saß sie nah am Tisch, und so konnte er sie, entgegen seiner Gewohnheit, zur Begrüßung nicht leicht um die Taille fassen, sondern küßte sie wie beiläufig auf die Stirn, womit die Begrüßung gewohnheitsgemäß blieb, weil das dem Restritual entsprach. Sie reagierte kaum, auch das: hatte sich so eingespielt. Ihn ärgerte es, aber er hatte keine Lust darüber zu sprechen, sondern eher Lust auf einen Kuß, einen Kuß auf den Mund, den ihren, auf Zungenspiel und was sich daraus hätte machen lassen: stellte er sich vor und hatte Mühe, sich nicht vorn an die Hose zu greifen, um sich zu vergewissern, ob das stimmte, was er dort vermutete, ohne es sich vorstellen zu können, geschweige denn glauben: in der gebeulten Unterhose das gebläute Glied. Dem stünde das Sprechen nur im Wege. Wie also weiter? Er konnte nicht dringen in sie: einfach so. Also: wie sie umwerben, wie sie verführen? Wohin ist die Kunst, die Sicherheit von einst, ein Herz gewinnen zu können? Und: will sie das noch, gewonnen werden? Das konnte er sich schwerlich vorstellen, aber ausmalen, das konnte er es sich. Und brachte sich rasch ab davon. So legte sich seine Vorfreude, auch Verwunderung: wurde Bedauern, seine Erregung: wurde Enttäuschung. Dennoch sagte er: "Du siehst gut aus", unvermittelt -die Überraschung auf ihrem Gesicht - und setzte sich an den Tisch: zu ihr! Die Überraschung: in ihrem Gesicht. "Ja, findest du?" schlug es sie aus der Stimmung. "Ich finde, ich habe mich verändert durch die Schwangerschaften. Ich bin nicht mehr so, wie soll ich sagen, weicher geworden bin ich, mein Körper." Sie stellte ihn auf die Probe. "Ja? Meinst du?" So täuschte er über sein kleines Geheimnis hinweg, sie gesehen zu haben; zweifelte er, weil es tatsächlich ja der Wahrheit entsprach, er konnte es nicht wissen, so lange hatte er seine Frau schon nicht mehr betrachtet, beachtet. Damit wollte sie nichts anfangen, es schattete kurz in ihrem Gesicht. Aber er fühlte sich, zumindest zwischen den Beinen: fühlte er sich auch verliebt, und spürte daher den Schmerz, den der Schatten ihm vermachte. "Ich finde dich schön. Wie du da sitzt." Sie schien ihm sehr begehrenswert. Damit ließ sich etwas anfangen. Und schon huschte ein Lächeln über ihr Gesicht und durch die Küche, von seinen versteiften Absichten wußte sie nichts. Sie konnte sich Derartiges gar nicht mehr vorstellen. Doch dieses Lächeln war Belohnung für ihn, so daß es ihm plötzlich nicht mehr nur darum ging, ihren nackten Körper zu spüren und in den einzudringen.

Aber: Was ist ein Lächeln?

Flüchtig.

Er würde gerne sprechen mit ihr über so einiges, ohne zu wissen wie, weil er sich darüber kaum Gedanken macht, weil ihm das nicht fehlt, wenn es weg ist, das Gefühl der Beklemmung, wenn er heimkommt abends, der Erleichterung, wenn er in die Arbeit geht morgens. Was ihm fehlt: ihre Anerkennung, daß er sich auffrißt jeden Tag, um das Geld zu verdienen, das sie ausgibt für sich und die Kinder wie selbstverständlich. Sie will mit ihm spazierengehen, weil Sonntag ist, weil die Kinder nichts von ihm haben. Und das Spielzeug, das zählt nichts, das Haus, der Urlaub: zählt alles nichts? Darüber würde er gerne sprechen mit ihr, über sein Unbehagen, nach Hause zu kommen und den unausgesprochenen Vorwurf zu spüren, zuwenig Zeit zu haben für sie und die Kinder: führt sie neuerdings immer ins Feld, um ihm ein schlechtes Gewissen einzupflanzen. Er ist kein so lausiger Familienvater, wie sie ihn sieht: sieht er sich nicht. Wie er sich sieht: ungerecht behandelt, beurteilt, überfordert.
Vor einer Viertelstunde hätte er fertig sein sollen, um spazierenzugehen. Er kann sie sich vorstellen, wie sie in der Küche sitzt wie immer und enttäuscht ist von ihm: ebenfalls wie immer, weil er es ihr nie recht machen kann. Und raucht eine dabei, während sie wartet auf ihn. Wie er sie sich nicht mehr vorstellen kann: nackt auf dem Bett. Das Zahlenwerk auf dem Monitor ist ihm näher, ist dringlich. Und es ist Sonntag, und er hätte endlich Zeit, diesen Überstand abzuarbeiten. Also: das Spazierengehen bleiben lassen, sofern sie nicht noch einmal in der Tür erscheint, um ihn darauf anzusprechen: wo bleibst du denn wieder, komm jetzt endlich. Ihr Bild blitzt kurz in ihm auf - sie, in der Küche, die Kippe in der Linken - bis er sie verscheucht, jedweden Gedanken an sie verscheucht: in die Küche.

Was er nicht sieht: sie, in der Küche, aber ohne Zigarette, dafür wie erstarrt, die Hand preßt noch das Mundstück auf die kalte Asche, seit Minuten bereits: preßt die Hand die Asche. Sie hat die Zeit, die sie nicht will, weil er sie nicht aufbringt für sie, und verbringt sie fossiliert: in Gedanken nämlich. Ohne zu denken, es gibt nichts mehr zu denken. Sie fühlt sich leer, also fühlt sich kaum. Bis die Kleine erwacht und plärrt vor Hunger.