Jahresausgabe 1998
Farbenbrüche
von Marco Kunz
Farbenbrüche
Auswahl von vier Gedichten des Preisträgers des Jungen Literaturforums
Hessen-Thüringen 1997 Marco Kunz aus den letzten 16 Monaten,
"eine ziemlich wilde Mischung, was meine Unsicherheit bezüglich
des Stils in dieser Zeit ganz gut widerspiegelt: der Titel des ersten
Gedichts, Farbenbruch, wäre gleichzeitig die beste Überschrift
für die ganze Auswahl".
Kommentar der Redaktion: Aus nebelhaftem Dunkel plötzlich aufreißende
Tiefe, aus der ein bedenklich nahes Nichts, eine bedrohende Angst
heraufstarrt; eine atmosphärische Gefühlslage, die auf
der vergeblichen Suche nach einer festen Form auch emotionale Sicherheit
sucht.
Farbenbruch
Unvergessen steigt grundlos auf
in dir, im Nebelzentrum
siehst du klar -
Ist es Logik? Wenn es eine ist,
dann ist es eine der Musik ...
Ein Tonartsprung, ein Farbenbruch -
und unwillkürlich sind Verbindungen
im Nebel blind, bewußtlos hergestellt ...
Du staunst vielleicht noch,
daß du nichts vergißt,
doch bist du eigentlich
schon nicht mehr hier -
und deine Zeit verläuft ins Weite ...
Blutgedanke
Denk: deine Straße ist geteert -
du fährst nur sicher,
weil du es nicht siehst.
Was?
Daß du Blut hast, mußt du sehen:
lief ein Reh über die Straße -
Unfall lief vor deinen Augen,
und da war sie plötzlich:
Angst.
Denk: deine Straße ist geteert
von dir, ein Riß nur,
und es kommt hervor.
Wie?
Daß du Blut hast, mußt du sehen,
daß du sterben wirst, erspüren,
daß du werden kannst, erleben -
nie siehst du den ganzen
Grund.
Freier Fall
Wo Notwendigkeit am größten ist,
ist es die Freiheit auch (wie einst
Fritz Nietzsche schon so schön bemerkte
am Beispiel Seidenwurm) es fällt
dann beides ganz in eins zusammen:
Wo wir nicht anders können als wir tun,
da fühlen wir uns frei.
Perfekt vollführst du es vor meinen Augen,
zerknülltes Blatt Papier, von meiner Hand in
den Papierkorb fallend - du kannst nicht anders
und bist vollkommen frei, im freien Fall:
die Schwerkraft zieht dich, unausweichlich,
keine Entscheidung bleibt dir, auch kein Grübeln,
nur Fallen, Freiheit, gradeaus ...
War doch das Denken, Nietzsche lesen, u.s.w.
nicht ganz umsonst, denn das Ergebnis
zeigst du mir jetzt, zerknülltes Blatt Papier:
dem eigenen Gesetz nur folgend, im eigenen
Gesetz geborgen, sich selbst vollendend
ohne Umweg - das ist der Weg, ich folge dir!
Der ungelebte Augenblick
Der ungelebte Augenblick,
da nur der Mond dich sah,
sonst nichts.
Warst du nur da du selbst,
als nichts begann?
Wo du nicht Schläfer warst,
nicht wach, nicht tot.
|