Jahresausgabe 1999:

Lyrik

von Angelo Niklas

 

VOR DER PREMIERE

Ich trage meine Augen aufgeschlagen,
ich halte manchmal meinen Atem an,
ich will mein Spiegelbildnis dauernd fragen:
so sitzt sie wirklich in der Eisenbahn?
Ich lebe nur für diese Brecht-Premiere,
der Zug, er kommt wahrscheinlich auf Gleis 2,
ich wäge ständig ab das Ungefähre
und probe schon einmal die Barbarei.

Wenn wir sie schaffen, diese Brecht-Premiere,
dann werden uns die Augen übergehn,
ich miete uns den besten Gondoliere,
Venedigs Masken werden uns verstehn.

Ich träum seit Jahren von der alten Seufzerbrücke,
und Tintorettos gelbgetünchtem Atelier,
du läßt es zu, daß ich dein Stilleben zerpflücke
und deine Brüste mit der roten Sehnsucht schmücke,
du wirst mich loben über allen grünen Klee,
du weißt, die größte Liebe tut am meisten weh.

WEH ZU WEH
(Chrysanthemen im Mai, D-Dur)

Schwester, schau, die Chrysanthemen,
Schwester, schau, der Apfelschnee,
wirst dem Mai nichts übelnehmen,
wirf dein Weh zu meinem Weh.

Schwester, schau, die Hummeln fliegen,
Schwester, schau, das Moos ist weich,
werden beieinander liegen,
jung und stumm und freudebleich.

Schwester, schau doch, deine Hände
tasten über meinen Bauch,
ohne große Widerstände
finden meine deinen auch.

Schwester, schau doch, meine Beine
schlingen sich um deine Lust,
Schwester, wie ichs mit dir meine,
weißt du, weil dus wissen mußt.

Schwester, schau, ich bin allmächtig,
weiß, wie mächtig du es magst,
werde nie mehr schwach und schmächtig,
weil du selber alles wagst.

Schwester, schau, nun will es glücken,
sterben viele Blümelein,
sind das Tier mit den zwei Rücken,
werden nie mehr einsam sein.