Jahresausgabe 1999:
Berenice, oder: Herrin über Leben und Tod
von Marianne W. Bayer
Nina liebte es, Puppen Namen zu geben. Sie brauchte jedes Jahr
mindestens eine neue Puppe, um einen neuen Namen nehmen zu können.
Sie probierte, ob man auch die alte Puppe neu benamsen konnte, wenn
man ihr die Haare abschnitt. Ihr Bruder hatte es leichter. Er gab
seinen vielen Plastiksoldaten Namen, und bei Soldaten war es klar,
dass sie irgendwann erschossen wurden, dann standen andere Soldaten
mit neuen Namen wieder auf. Nina verlieh jeder Puppe Geburtstag
und Lieblingsfarbe. Als sie älter wurde, gab sie jeder Puppe
einen Freund. Der Freund kam zwar nicht vor, aber jedes Puppenmädchen
besaß ein kleines Stück weißer Pappe, auf dem ein
Jungengesicht aus dem Versandhaus-Katalog aufgeklebt war, und darunter
stand in winziger Schrift sein Name. Nina überlegte, ob blonde
Jungen zu blonden Mädchen passten oder im Gegenteil besser
zu schwarzhaarigen. Um das auszuprobieren, musste die Puppe sich
am Plastiktelefon mit ihrem Freund verkrachen und einen neuen kriegen.
Als Nina zwölf wurde, tat sie die Puppen auf den Speicher.
Aber die Sucht des Namengebens blieb. Jetzt waren es eben keine
Puppen mehr, sondern erfundene Mädchen in Ninas Kopf. Nina
verlieh jedem eine Haarfarbe und Frisur, einen Beruf und natürlich
einen Freund. Und jedes Mädchen heiratete und be-kam ein Kind,
was wieder Anlass zu Namengebung und kurzer Beschreibung war. Wollte
Nina Romanschriftstellerin werden? Die wenigen Begegnungen mit Romanen,
die sie auf der Hauptschule hatte, belehrten sie eines besseren.
Für die Schule musste sie Jugendromane von Rororo-Rotfuchs
lesen und einen richtigen Roman - ich glaube, er war von Heinrich
Böll. Die Romane waren furchtbar ausführlich, man wusste
immer, was der Held sah und hörte - fehlte bloß noch,
dass man erfuhr, wann er aufs Klo ging! Bei Nina war das anders.
Ihre Heldinnen hatten eine Namen, einen Geburtstag und einen Beruf
des Vaters, sie waren dünn oder dick, wählten eine Haarfarbe,
die ihnen stand, verkrachten sich mit ein oder zwei besten Freundinnen
und zwei oder drei Lovern, heirateten, bekamen zwei oder drei Kinder
- und während diese Kinder heranwuchsen, verlor Nina meist
das Interesse. Wenn's hochkam, ließ sie die Heldin noch um
die 40 herum an Autounfall, Brustkrebs, komplizierter Geburt oder
Selbstmord aus Eifersucht sterben. Das Ganze war so kurz und bündig,
dass es nicht einmal ein JULIA-Romanheft gefüllt hätte.
Nina wäre gern Fotografin geworden, aber davon gab es zu viele.
Sie fand eine Lehrstelle als Friseuse. Und trotz des langen Stehens
und der müden Füße war sie glücklich. Das Schneiden
und Färben von Haaren gab ihr die Chance, immer neue Menschen
zu machen, wie schon an den Puppen geübt. Aber lei-der machte
das Friseurgeschäft zu - die Kundinnen hatten mit beginnender
Wirtschaftsflaute kein Geld mehr für ihre Haare. Nina blieb
nichts anderes übrig, als ihren Freund zu heiraten und ein
Kind zu kriegen. Es wurde ein Junge. Nina nannte ihn Lorenz Daniel
und sah, dass sein blondes Haar nur langsam wuchs. Leider entwickelte
sich der ganze Lorenz Daniel sehr langsam, wie es Jungenart ist.
Er wollte weder aufs Klo noch aufs Töpfchen. So hockte Nina
mit ihm zu Hause und haute Lorenz Daniel heimlich. Nina hing regelrecht
durch. Ihre Mutter wollte sie aufmuntern und riet ihr, doch mal
in die vielen schö-nen Serien reinzuschauen, die es jetzt im
Fernsehen gab. Aber seltsam - obwohl die Mädchen in den Serien
ganz ähnliche Dinge taten wie die Mädchen, die Nina sich
früher im Kopf ausgedacht hatte, fand Nina am Fernsehen wenig
Freude. Sie wollte nicht gucken, sondern selber Menschen machen
- ja, das war der springende Punkt! Einmal sah Nina ein Buch "Das
Mädchen aus dem Clan der Wölfe". Das Buch war dick,
und Nina konnte nicht mehr aufhören zu lesen. Tagelang schlief
und aß sie kaum, gab Mann und Kind nur einsilbige Anworten.
Das Mädchen aus dem Clan der Wölfe hatte drei Lover aus
verschiedenen Clans überlebt und sieben Kinder geboren, von
denen vier jung starben. Und am Ende, mit 50 und grauem Haar und
dem sicheren Gefühl, bald zu sterben, war sie die weise Frau
und durfte für ihre Enkel und andere Babys der Siedlung die
Namen auswählen. (Ninas Mann hingegen wollte nicht einmal ein
zweites Kind - er sah ja, wie nervös sie schon die Erziehung
des langsamen Lorenz Daniel machte!) Sicher, das Leben von Wolfmädchen
war ekelhaft - mit Vergewaltigung durch fremde Krieger und mit geschmolzenem
Tierfett, aus dem man sich Seife, Wundsalbe und Lippenrot selbst
herstellen musste - und doch hatte dieses kurze, volle Leben etwas
für sich. Nina verlor sich darin und fasste nie wieder Fuß
in ihrer Dreizimmerwohnung. Da dies hier weder Wolfmädchenroman
noch Sozialdrama werden soll, sondern eine kurze, wenn auch lehrreiche
Geschichte, sind wir gezwungen, zehn Jah-re zu überspringen.
Nina ist jetzt 35 und besitzt nichts außer ihrem Tabak zum
Selberdrehen und ihrer immer noch schönen, vollen, straffen
Figur. In Torstens Hochhauswohnung hat sie sich eingenistet gemäß
dem uralten Tausch des Weibes, Körper gegen Dach. Da sitzt
sie nun und cremt sich die Füße, die noch immer wund
sind vom Wandern und Betteln. Ob Torsten mich schon satt hat? fragt
sie sich bang. Jeden Abend nach der Arbeit sitzt er vor dem Computer.
Er hat ein Mittelalter-Spiel, das kann man per Internet mit Menschen
rund um den Erdball spielen. Die bunten Bildchen auf dem Bildschirm
locken Nina näher. "Ach Torsten - bring mir das doch auch
mal bei!" Torsten ist skeptisch. Frau und Computer? Aber Nina
zappelt vor Begeisterung: Jetzt sind die Würfel gefallen: Torsten
soll ein Ritter werden! "Toll! Da brauchst du aber auch einen
neuen Namen. Du heißt Frederik," sagt Nina. "Und
sag mal - gibt es auch Burgfräuleins? Ich möchte ein Burgfräulein
werden. Ich heiße Berenice." Torsten ist platt. Berenice
- er weiß nicht einmal, wie man das schreibt. "Aber die
Würfel sagen, du bist in einer niederen Kaste geboren,"
wendet er ein. Nina überlegt: "Macht nichts. Gib acht,
Frederik, da kommt ein Drache, versteck dich! Der Drache kann jetzt
mal meinen Vater töten. Dann kannst du mich als Pflegekind
annehmen und mir den neuen Namen Berenice geben. Und bald bin ich
vierzehn und mannbar, und dann...." Und Frederik sieht aus,
als ob er begreift: Das ist seine Berenice für immer. Fünf
Jahre älter als er und nur Hauptschule und, na ja, ihre drei
Kinder von zwei Männern hat sie in Pflege geben müssen
- aber was soll's? Frederik und Berenice. Zusammen sind wir unschlagbar.
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