Jahresausgabe 1999: Service

Psychiatrie und Literatur

 

Die Sehnsucht nach dem Anderen


Christa Oppenheimer (Hg.). Die Sehnsucht nach dem Anderen: Texte und Betrachtungen aus und über die Psychiatrie. Butzbach-Griedel: AFRA-Verlag, 1999. ISBN 3-93207-23-X


Dieser Band lässt Texte von Menschen sprechen, die auch in psychiatrischen Krisen noch in der Lage sind, ihrer inneren Verfassung schriftlich Ausdruck zu geben und damit ihrer sozialen Umgebung einen Schlüssel zum Verstehen zu liefern. In einer Art Anthologie werden ihre Gefühle, Gedanken, Wahrnehmungen und Auseinandersetzungen mit der Umwelt öffentlich zugänglich. Die Möglichkeit, in einem literarischen Rahmen gerade nicht als "nur-kranke" Schreibende gelesen zu werden. Die Texte wurden von den Herausgebern nicht verändert, sie sollen in ihrer Ursprünglichkeit und Eindringlichkeit für sich selbst sprechen und nicht von "literarischen" Maßgaben eines Kulturkritikers abhängig sein. Im Blick stehen sollte immer, dass der poetische Umgang mit Worten nicht nur das Abbild des sozialen Leidens der Menschen aufzeigt und ihnen möglicherweise in ihrer Krise Stärke und Stütze bedeutet hat, sondern auch die Möglichkeit einer Reflexion und Suche der eigenen Brüchigkeit in und von Alltag, Tradition und Selbstverständlichkeiten bedeutet. Schreiben ist hier als Medium eingesetzt, um die Brüche zwischen dem eigenen Erleben, dem Fühlen und Wahrnehmen mit dem Schein des traditionellen Normalen zu vermitteln. Es bildet die Brücke zum Flanieren zwischen den Welten, überwindet Grenzen und ist die Suche nach der Anerkennung durch den Anderen.
Den ersten Teil des Buches mit den Texten von Simon Roesig, Lutz Überschär, Sonja Reis, Gabriele Casper, Ute-Margarete Deschamps, Hildegard Langhans, Hein Piepenbrink, Conny Kubes, Bärbel Diesner und Hans Joachim Gappert folgt ein Betrachtungsteil.
Die Beiträge der Betrachtungen erörtern interdisziplinär die Bedeutung des Schreibens und Lesens zur Selbst-Konstruktion, eine mögliche Affinität von Kunst, Psychiatrie und Gesellschaft und last not least die Bedeutung einer Dialektik von krank-gesund im psychiatrischen Umfeld. Wobei eine Ethik der Verantwortung in ihrer Anerkennungsbedeutung für das Selbst und den Anderen beleuchtet wird.
Das Buch ist ein Versuch aufzuzeigen, wie Schreiben zur Identitätssuche eingesetzt wird, als eine besondere Form des kulturellen Umgangs, um gesellschaftliche Brüche zu verbinden, die Geltung kultureller Ordnung auf ihre Sinnabhängigkeit zu hinterfragen und Widersprüche aufzudecken.