Der Sturm
von Jan Henrik Hartlap
Von der langen Wanderung erschöpft, lehnte sich
Lucullus gegen die Wand der Wirtsstube. Er wollte erst zu Kräften
kommen, ehe er die warme Stube betrat.
Große Schneeflocken wurden vom Wind über die Straße
gejagt. Es war ihm unmöglich den Unterschied zwischen Himmel
und Erde auszumachen. Der Horizont wurde durch die tanzenden Schneeflocken
verwischt. Alles, was blieb, war ein Tuch von bläulich grauer
Farbe, das sich über das Land gesenkt hatte.
Lucullus hatte geglaubt er würde in diesem Sturm seinen Tod
finden. Er war nahe daran gewesen zusammenzubrechen. Die Lampe der
Gaststube hatte das Schneegestöber durchbrochen und ihm ein
Ziel gegeben. Mit letzter Kraft hatte er sich zu dem Licht hin geschleppt.
Wäre er in dem Sturm liegengeblieben, er wäre erfroren.
Die Stufen, die in den Ausschank führten zu ersteigen, war
Lucullus im Augenblick unmöglich. Ein ums andere Mal nahm er
sie in Augenschein. So sehr es ihm auch widerstrebte, mußte
er sich doch eingestehen, daß er noch keinen Schritt ihn ihre
Richtung unternommen hatte. Er stieß Verwünschungen gegen
sich aus, befahl sich gegen die Treppe vorzugehen. Doch sein Körper
versagte ihm den Dienst. Nur langsam kehrten seine Kräfte zurück.
Er spürte, daß es nur eine frage der Zeit war, wann er
die letzte Hürde zwischen sich und dem warmen Schankraum in
Angriff würde nehmen können.
Gerade als Lucullus einen weiteren Versuch unternehmen wollte, meinte
er Schritte zu hören.
Angestrengt lauschte er in das Schneetreiben hinein. Knirschende
Schritte auf frischgefallenem Schnee. Er war sich sicher gewesen.
Lucullus konzentrierte sich so sehr, daß er darüber sein
körperliches Elend vergaß. Doch kein Laut war zu hören.
Lucullus Stimmung verdüsterte sich. Er hätte gerne jemanden
getroffen, auf den er sich hätte stützen können.
Jemand, mit dessen Hilfe er die Stufen hätte erklimmen können.
Er wollte sich niedergeschlagen gegen die niedrige Mauer lehnen,
als sich die schemenhafte Gestalt eines Mannes aus dem Schneegestöber
schob. Langsam und gegen den übermächtigen Wind ankämpfend,
kam der Mann auf Lucullus zu, wobei dieser keineswegs dessen Ziel
darstellte. Es war vielmehr der Wind, der den Mann zu Lucullus trieb.
Als er nur noch einen Schritt von ihm entfernt war, blieb der Mann
stehen. Er stockte mitten im Schritt und blickte Lucullus überrascht
an.
Es war keine Freundlichkeit in dem Blick. Der Mann schien geradezu
verärgert zu sein, daß jemand sich an die Mauer der Wirtsstube
gelehnt stand.
Was tun Sie da? bellte der Mann, um den Wind zu übertönen.
Gleichzeitig stampfte er mit dem Fuß auf, um sein Gleichgewicht
zu wahren.
Die Grobheit der Frage beleidigte Lucullus. Zuerst wollte er nicht
antworten, aber dann überlegte er sich, daß er nicht
in der Position sei seinen Gegenüber zu ignorieren.
Wer sind Sie, daß ich Ihnen antworten müßte?
wollte er wissen.
Ich stelle hier die Fragen, entgegnete der Mann barsch.
Aber das will ich Dir beantworten, damit Du weißt, daß
ich jedes Recht habe Dir Fragen zu stellen. Ich bin nämlich
der Gemeindevorsteher dieses Ortes. Und ich nehme es mit meinen
Pflichten sehr genau. Nie hat man gesehen, daß ich in meiner
Pflichterfüllung nachlässig oder zögerlich gewesen
wäre.
Der Rang des Mannes beeindruckte Lucullus nicht. Er war aber ein
Beamter und es erschien Lucullus nicht ratsam, respektlos zu erscheinen.
Er beschloß, dem Gemeindevorsteher keinen Anlaß zu geben,
seine Macht gegen ihn zu gebrauchen.
Lucullus versuchte sich aufzurichten, doch gelang es ihm nicht.
Er rutschte wieder ein Stück die Mauer herunter. Die Beine
versagten ihm den Dienst. In den Augen des Gemeindevorstehers mußte
er wie ein Betrunkener wirken. Lucullus überlegte sich jedoch,
daß er darauf verweisen konnte, daß sein Atem nicht
nach Alkohol roch und er auch sonst keine Anzeichen von Trunkenheit
erkennen ließ.
Was tust Du da?
Ich lehne mich gegen die Wand.
Diese Antwort schien den Gemeindevorsteher nicht zufrieden zu stellen.
Er wog den Kopf hin und her, als müsse er erst über die
Antwort nachdenken, ehe er sich sicher sein konnte, daß sie
ihm nicht gefiel.
Ich täte es nicht, wenn ich nicht so erschöpft wäre.
Ich war unterwegs in die Stadt, als mich das Unwetter auf offener
Straße überraschte. Ich konnte mich gerade noch hierher
retten.
Endlich schien der Gemeindevorsteher zu einem Entschluß gekommen
zu sein. Die Falten auf seiner Stirn glätteten sich. Lucullus
zweifelte daran, daß er ihm zugehört hatte.
Man steht nicht gegen eine Wand gelehnt. Es sei denn, man
ist ein Bettler, und Bettler dulden wir hier nicht. Bist Du ein
Bettler?
Der Gemeindevorsteher blickte Lucullus erwartungsvoll an. Lucullus
wußte nicht, was von ihm erwartet wurde.
Ich bin kein Bettler, sagte er verwirrt. Ich stehe
hier nur, um mich zu erholen, um wieder zu Kräften zu kommen.
Davon habe ich noch nie gehört, beschied ihn der
Gemeindevorsteher, als würde diese Tatsache allein bereits
alle weiteren Argumente seitens Lucullus entkräften.
Der Sturm hatte sich gelegt und war normalem Schneefall gewichen.
Das zuweilen ohrenbetäubende Brausen des Windes war zu einem
leisen Flüstern geworden. Nur noch selten wirbelte eine verirrte
Böe die Flocken durcheinander. Aber das sah nun nicht mehr
nach bedrohlichem Totentanz aus, vielmehr nach einem malerischen
Idyll.
Da sich auch das allgegenwärtige Grau mehr und mehr auflöste,
konnte Lucullus erkennen, daß die Gaststube das erste Haus
im Dorf war. Eine kleine Mauer, mehr als Zierde gedacht, denn mit
einem sinnvollen Zweck verbunden, umgab es.
Lucullus war versucht sich umzublicken, um den Namen des Hauses,
das sein Leben gerettet hatte, in Erfahrung zu bringen. Er wagte
es jedoch nicht, den Gemeindevorsteher aus den Augen zu lassen.
Er hätte dies als eine Mißachtung seiner Person auffassen
können.
Bettler dulden wir hier nicht, verkündete er eben
wieder.
Wie ich bereits sagte, bin ich kein Bettler. Der Sturm hat
mich auf offenem Feld überrascht. Hätte ich mich nicht
hinter diese Mauer gerettet, ich wäre vor Ihrem Dorf erfroren.
Warum ich hier so angelehnt stehe, ist leicht erklärt. Ich
war so erschöpft von dem langen Marsch, dem ständigen
Ankämpfen gegen den Wind, daß ich mich erst einmal ausruhen
mußte. Gerade als sie kamen, wollte ich mich in den Ausschank
setzen, um mich bei einem steifen Grog aufzuwärmen.
Lucullus versuchte ein Lächeln, um seinen Gegenüber von
seiner Harmlosigkeit zu überzeugen. Kälte und Wind hatten
sein Gesicht jedoch so steif werden lassen, daß jede Bewegung
schmerzte und der Versuch ihm zur Grimasse geriet.
Der Gemeindevorsteher winkte mit zwei Fingern in Lucullus Richtung.
Zwei Männer, die Lucullus im Halbdunkel bislang übersehen
hatte, setzten sich in Bewegung und kamen langsam auf ihn zu. Zunächst
erschrak Lucullus, doch dann schalt er sich einen Narren. Er hätte
ja nichts zu befürchten. Schließlich sei er kein Bettler.
Jetzt waren sie bei ihm. Er blieb gelassen. Krachend ließen
sie ihre großen Hände auf seine Schultern fallen, packten
ihn, hielten ihn grob in eisernem Griff gefangen.
Was soll das? rief Lucullus. Ich bin kein Bettler.
Wie oft soll ich das denn noch sagen? Außerdem, er versuchte
sich aus dem Griff der Männer zu entwinden, außerdem
kann ich meine Unschuld beweisen. Ich habe einen Brief bei mir,
in dem man mir eine Anstellung in der Stadt angeboten hat. Deshalb
reise ich ja zu dieser stürmischen Jahreszeit, um meine Stellung
in der Stadt anzutreten.
Zeigen Sie mir den Brief, verlangte der Gemeindevorsteher.
Er ist in meiner Tasche. Ich habe sie bei dem Sturm verloren.
Wenn wir sie suchen. Morgen, bei Tageslicht.
Verloren also, sagte der Gemeindevorsteher langsam.
Seine Stimme war Ungläubigkeit.
Ich verlange einen Anwalt zu sprechen.
Der Gemeindevorsteher sah Lucullus überrascht an. Dann begann
er herzhaft und keineswegs bösartig zu lachen.
Lucullus freute sich mit ihm. Er hielt das alles noch immer für
einen Scherz und glaubte jetzt freigelassen zu werden. Doch dann
verstummte der Gemeindevorsteher und seufzte.
Sie scheinen Ihre Lage völlig zu verkennen. Auch ein
Anwalt könnte Ihnen nicht helfen, denn ich habe Ihren Fall
gewissenhaft geprüft. Sehr gewissenhaft. Ich sagte Ihnen ja
bereits, daß ich meine Pflichten sehr ernst nehme und niemals
ein vorschnelles Urteil fälle. Sie müssen einsehen, daß
Ihre Geschichte mehr als unglaubwürdig. Sie wollen im Winter,
wahrlich keine Reisezeit, zu Fuß in die Stadt. Als Gepäck
nur eine Tasche, mit einem Brief über eine angebliche Anstellung
in der Stadt darin. Eine Tasche, die sie vorteilhafterweise im Schneesturm
verloren haben. Was könnte Ihnen also ein Anwalt helfen, selbst
wenn ich die Absicht hätte einen herbeiholen zu lassen? Was
ich nicht vorhabe. Der nächste Anwalt wohnt in der Stadt. Außerdem
müssen Sie einsehen, daß Sie in jedem Fall schuldig sind.
Spätestens in dem Augenblick, als Sie mein Dorf betraten, abgerissen
und ohne Geld, wurden Sie zum Bettler.
Lucullus entgegnete darauf nichts. Er sah ein, daß man mit
dem Gemeindevorsteher nicht reden konnte. Gewiß legte er ihm
auch seinen Wunsch nach einem Anwalt zu seinen Ungunsten aus.
Der Wind hatte wieder zugenommen. Lucullus fühlte, wie Kälte
an seinen Beinen emporzukriechen begann. Jeden Augenblick konnte
es wieder anfangen zu schneien. Dieses Mißverständnis
muß doch beizulegen sein, dachte er.
Es ist kalt und ich habe nicht die Zeit, auf einen Anwalt
zu warten, sagte er. Wie wäre es denn, wenn ich
die Strafe bezahlen würde, ohne mich schuldig zu bekennen?
Nennen Sie mir die Summe und ich stelle Ihnen einen Wechsel aus.
Ihr hartnäckiges Weigern, sich schuldig zu bekennen,
ist lachhaft und zeugt nur von Ihrer mangelnden Einsichtigkeit.
Sie haben jede Aussicht auf Milde vertan! brüllte der
Gemeindevorsteher. Ohne Lucullus eines weiteren Blickes zu würdigen,
stapfte er durch den hohen Schnee davon. Seine Gehilfen folgten
ihm, den sich wehrenden Lucullus hinter sich herziehend.
Ich würde Ihnen auch mehr als die gewöhnliche Strafe
zahlen, wenn es das ist was Sie wollen, rief Lucullus. Nennen
Sie mir die Summe, ich zahle.
Sie waren einige Schritte gegangen, als die Gehilfen abrupt stehen
blieben. Lucullus verlor das Gleichgewicht. Augenblicklich waren
sie über ihm und banden ihm Hände und Füße.
Schon stellten. Sie ihn wieder auf und beschleunigten ihre Schritte,
um den sich eilig entfernenden Gemeindevorsteher einzuholen. Lucullus
konnte wegen der Fesseln jedoch nur kleine Schritte machen und fiel
der Länge nach hin.
Mit einem gereizten Knurrlaut, wie bei scharfen Hunden, packten
sie ich und trugen ihn dem Gemeindevorsteher nach. Verwirrt ob dieses
Treibens und auch von den Gehilfen eingeschüchtert, wehrte
sich Lucullus nicht mehr. Auch glaubte er bei ihnen nichts erreichen
zu können. Sie hatten bis auf jenen Knurrlaut noch keinen Ton
von sich gegeben und schienen für sein Schicksal kein Interesse
aufzubringen. Gewiß verließen sich in allem auf das
Urteil ihres Herren.
Lucullus reiste so getragen recht bequem. Zwar schaukelten seine
Träger mehr als ihm angenehm war, doch so konnte den Nachthimmel
sehen. Die Sterne leuchteten hell in der klaren Winternacht, aus
der sich die Wolken verzogen hatten. Die knirschenden Schritte der
Gehilfen in der endlosen Stille, der bläuliche Schnee unter
und die Sterne über ihm, ließen Lucullus sich entspannen.
Hatte er eben noch darüber nachgedacht, wohin er gebracht und
was weiterhin mit ihm geschehen würde, so dachte er jetzt an
nichts mehr, oder ließ vielmehr seine Gedanken schweifen.
Er wußte, sie würden ihn töten. Ob er dann ein Stern
und den anderen Sternen Gesellschaft leisten würde? Lucullus
dachte bei sich, daß er gerne ein Stern sein würde. Wie
friedlich es sein mußte, am Himmel seine Bahnen zu ziehen
und die nächtliche Erde zu betrachten.
Wie schön die Nacht war; jetzt, nachdem der Sturm vorüber
war. Noch immer hatte er das Gefühl bevorstehenden Unheils,
aber es wurde schon schwächer.
Die Gehilfen erreichten den Marktplatz des Dorfes. Es war ein runder
Platz, umgeben von geduckten Fachwerkhäusern. Eines von ihnen
mochte das Rathaus sein, aber in Lucullus Augen unterschieden sie
sich in Nichts voneinander. Alle waren sie in weiß oder gelb
gehalten, mit Verstrebungen in dunklem Braun.
Der Gemeindevorsteher stand neben einem Scheiterhaufen, der beinahe
zur Hälfte von Schnee bedeckt war. Die Verspätung der
Gehilfen schien ihn nicht zu kümmern. Er las in einem dicken,
in schwarzes Leder eingeschlagenes Buch, das Lucullus als Bibel
identifizierte. Er blickte nicht auf.
Lucullus vermutete, daß er sich vor jeder Hinrichtung in die
heilige Schrift vertiefte, um daraus die Kraft zu schöpfen
das zu tun, was er für seine Pflicht hielt. Herr über
Leben und Tod.
Lucullus wußte, daß dies die letzte Gelegenheit war,
seine Hinrichtung abzuwenden, doch er zog es vor zu schweigen.
Geduckt, als erwarteten sie jeden Augenblick, bestraft zu werden,
banden die Gehilfen ihn an den Pfahl in der Mitte des Scheiterhaufens
und traten mit einem ehrfurchtsvollen Ausdruck auf ihren Gesichtern
zurück. Noch einmal ließen sie prüfend ihre Blicke
über ihr Werk schweifen und änderten an einigen Stellen
die Anordnung der Holzscheite, befreiten sie vom Schnee. Dann schafften
sie mehrere Kannen Petroleum aus einem der Fachwerkhäuser herbei
und gossen es über den Reisig zu Lucullus Füßen.
Lucullus betrachtete sie abwesend und gab sich der völligen
Stille hin, in der all das geschah.
Als das Werk zu ihrer Zufriedenheit gediegen war, traten die Gehilfen
zurück und blickten ihren Herren erwartungsvoll an. Es war
das erste Mal, daß sie ihn offen ansahen, seit sie den Marktplatz
betreten hatten.
Der Gemeindevorsteher begann nun leise zu beten. Als er geendet
hatte, las er eine Passage aus der Bibel vor. Währenddessen
bewegte sich niemand. Aber als er geendet hatte, blickten die Gehilfen
Lucullus eindringlich an.
Der Delinquent hat nichts mehr zu sagen? fragte der
Gemeindevorsteher halb an Lucullus gewandt, halb an seine Gehilfen.
Die schüttelten verneinend ihre Köpfe.
Es ist gut so, bemerkte er. Müßiggang
und Schmarotzertum werden hier nicht geduldet. Er schlug die
Bibel in seiner Hand zu und sah die Gehilfen an.
Ich bin kein Bettler, sagte Lucullus plötzlich.
Der Gemeindevorsteher sah ihn überrascht an. Es wäre
besser, Sie hätten nichts gesagt. Jetzt haben Sie sich auch
noch um einen würdevollen Tod gebracht. Wieder sah er
die Gehilfen an. Entzündet den Scheiterhaufen. Möge
der Herr sich seiner armen Seele erbarmen.
Die Gehilfen taten sorgsam, was der Gemeindevorsteher ihnen aufgetragen.
Es hatte wieder zu schneien begonnen. Wolken und Rauch verbargen
die Sterne am nächtlichen Himmel.
ENDE
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