Memoiren des Melchior (Auszug)
von Natascha
Hoefer
Danach wurd es noch recht lustig. Als Hannes, als
erster der Entdecker, den Brunnen wieder verliess: macht es bey
seinem Heraustreten ein Platsch! - und ihm klebt ein
Schneeball an der Mütze! Oh pfui, oh wartet! hören
wir ihn nur rufen, dann ist er schon draussen und weiss bombardiert
von unzählgen Treffern, während er noch selbern Schnee
zusammenklaubt! Der Wilhelm ists, mit der Marie!
hören wir das Tinchen lachen, und dann verstummen und dann
quieken, weil nun sie an der Reih, und: Tinchen, wir retten
dich! ruft Niklas, und wir stürzen alle raus. Was war
das eine wilde Schlacht! Bald wusste man nicht mehr, wer zu wem
gehörte, also schoss man auf alles, was einem vor die Füsse
kam -. Dreymal wurd ich eingeseift, von Niklas und Thea, von Wilhelm
und Hannes, und dann von den Weibern allesamt - die Bestien! - aber
wohl hab auch ich mich wacker geschlagen und tapfer gerächt!
Nur hatte ich irgendwann nicht mehr die Puste, und während
auch der Rest der Schlacht schon matter wurd, schlich ich mich kurz
auf die BrunnenRückseite. Obs hier wohl auch noch eine
versteckte Inschrift gäbe? fragt ich mich. Als ich aber so
vor der verschneiten Mauer stund, wohin die Schreie und das Lachen
der andern nur gedämpft hintönten, und die hier, unter
hohen Bäumen geschützt, nur recht dünn, grade eben
wie weiß übertüncht vor mir lag, da verliess mich
plötzlich die Lust, nach weiterer Schrift zu suchen. Nachdem
ich soviel schon gelesen - befiels mich, ich weiß auch
nicht - ein Bilde zu sehen - Und wie ich so da stund, vor der einsamen
Mauer in halbdunklem Licht, erinnert es mich plötzlich
an eine andere, Tage zuvor... die gotische Kirche hoch in Marburg
kam mir in den Sinn - und der schöne Engel, verborgen in der
Ecke beym Portal. Eh ichs überlegte, hatt ich auch
schon den Handschuh ausgezogen, und fuhr mit dem blossen Finger
behutsame Linien durch die dünne Schicht von Schnee, die ich
damit gänzlich fortwischt, so daß der rote Stein darunter
nass schimmernd zum Vorschein kam. Ein merkwürdges Kribbeln
durchschauert mich - ich hatte meinen Engel auf der roten
Kirchenwand so deutlich vor Augen, als schwebte er vor mir zwischen
mir und dem Schnee, und ich müsse ihn nur nachziehen - ich
trat einen Schritt zurück - und blickte auf eine Zeichnung
- nur wenige Striche - aber aus diesen - las ich, der ich kannte,
der ich wusste, ganz und gar meinen Engel heraus... und noch was
Andres. Die Neigung vom Hals - die Senkung der Augen - die gesamte
Gestalt in ihrer Leichtigkeit - ich weiß eigentlich nicht
was genau, aber etwas an diesem Engel war plötzlich... Marie
Mainhardt. Ich musst nur die Augenbraunen noch etwas nachfahren
- den HaarAnsatz an der Stirn etwas ändern - einige gelöste
Locken liess ich den Hals hinabfallen - Es war befremdlich: ich
hatt sie vor mir - aber ich, nur ich alleyn, denn ganz gewiß
konnte nur ich alleyn aus dem Gewirre von Linien und Bögen
überhaupt ein Bild, und dann noch ein solches Portrait, erkennen
-.
Fassungslos stund ich, und beklommen (auch itzt noch, wenn ich dran
denke), ich meine, so etwas war mir doch noch niemals passiert,
und wird auch bestimmt nie wieder - aber damals weckte mich ein
Schneeball aus meiner stupor, der mich mitten zwischen Hals und
linkem Ohre traf. Blöde fuhr ich in die Richtung; und um die
Eck herum blitzte mich für einen Augenblick lang sie selber
an, das Original - da packte mich der was weiß ich was, ich
trat rasch an mein sonderbar Gemäld heran, und setzt mit spitzem
Finger zwey kleine Hörnchen auf die engelsglatte Stirne...
Ich trat befriedigt einen Schritt zurück: und bald jemand auf
die Füsse: itzt hinter mir stand Marie selbst, hatte sich dorthin
geschlichen, und lugt auf ZehenSpitzen mir über die Schultern
- auf mein Bild! - Mein Herz setzt aus für einen Schlag und
ich erstarrte; die Zähne, die vordem leicht neckisch auf die
untre Lippe bissen, liessen diese los, die sich etwas nach unten
öffnet, doch kein Laut entfuhr ihr - aber sie würde doch
auch nicht - sie könnte doch nicht auch - Da schnarrt eine
allzu vertraute Stimme: Das ist aber mit nicht wenig Talent
gemacht. - Abermals fuhr ich herum, dicht bey uns stund -
Professor Mainhardt. Meint ers ernst? Meint ers zum
Scherz? Für einmal hätt ichs gern gewusst, und vor
allem: was er denn überhaupten sähe! Ich starrte selbern
auf mein Bild, diese allsowenigen, hingeworfnen Striche, von denen
ich gedacht, daß sie nur mir alleyn erzählten. Als ich
mich wieder umwand, war der Professor bereits verschwunden - und
Marie auch.
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