Die Muschel

von Markus Hofmann

 

Wenn es zu Ende geht, mache ich die Nacht zum Tag. Wenn die Möwe schreit, dann strecke ich meine Füße in die Luft und lache. Und wenn das Meer rauscht, dann ist es schon jedesmal vorbei. In der Ferne sehe ich noch den Schatten eines Schiffes, großen Schiffes, das, ich weiß es, nicht weit kommen wird, zumindest in meinem Sinne nicht weit kommen wird, weil ich allemal zu schwer bin, weil meine Welt zu schwer ist, weil ich ja immer auftauchen muss. Zähle bis drei und dann wetz die Flossen wie Flipper oder der gigantische Walfisch, der meine Grüße in die Tiefe trägt zu meiner Meisterin, die mich ruft. Warum müssen alle eigentlich immer gerade so weit entfernt sein, dass man sie nicht mit bloßen Füßen erreichen kann? Irgendwie ist das sehr bescheuert, aber wer wundert sich darüber? Die Möwen vielleicht, aber nicht ich, ich bin ja selbst ein Ozean... fast.
Ich habe meine Augen immer wieder geöffnet. Trotzdem. Ich habe das Blau gesehen, die Wolken, den Schaum und ihn manchmal selbst bekommen... vor dem Mund. Ich habe das reibende Gefühl des Sandes unter meinen alten Genitiv-Füßen gespürt, und es als schlecht verworfen, habe dies und das und überhaupt, aber es war nicht genug. Ich bin Welten durchwandert, habe sie zurückgelassen als rauchende Häufchen, klar, das ging nicht anders, habe mich umgeschaut und noch einmal den Spruch vom Zauber des Neuen gelesen und mich bestätigt und bin gelaufen, na ja, vorangeschritten, wie man so sagt, soweit die Beine tragen, und wenn schon die Beine tragen, wozu brauche ich dann Arme, um zu umarmen?
Ob es jetzt drei oder vier Schornsteine waren, das ist mir ziemlich egal, Hauptsache, es geht unter, denn dafür werden Schiffe doch gebaut, oder täusche ich mich da etwa? Unzählige Tonnen und dazu noch etwas Gefühl und Bombast, was will ich eigentlich mehr, das sollte es doch sein und sollte reichen, aber ich weiß es immer noch nicht und starre auf die Wellen und sage nicht das, was ich sagen will, weil das, was ich sagen will, schon zu tief versunken ist, und ich hier am Strand stehe mit dieser bescheuerten Muschel in der Hand, die nach Fisch riecht, und meine Liebste ist trotz all der Kommas, trotz all des Wegs, den ich jemals mit diesen Buchstaben zurücklegen könnte, trotz all der Geschwindigkeit, mit der ich jemals Wörter auf Papier zu brennen geübt habe, einfach abgesoffen, und ich habe dabei zugeschaut, nein, vielleicht sollte ich ehrlich sein, ich habe auf die Leinwand geschaut, auf die Wassermassen und die Wasserbomben, oder war es etwas anderes, vielleicht, es ist mir egal, weil jetzt nur noch die Muschel da ist und ein Gefühl des Schwindels.
Sie hat die Form, in etwa, einer Tulpe, auch wenn das sehr weit hergeholt ist. Tulpen kommen aus Holland, aber nicht ich und auch nicht sie, das war etwas völlig anderes und nicht genetisch verändert. Es war eher natürliche Chemie und die natürliche Chemie ist die Schlimmste, weil sie genau weiß, was sie will, es nur nicht sagt, erst dann, wenn es zu spät ist. Wenn die Chemie der Hafen ist, dann ist das Schiff noch vor seinem Untergang abgesoffen und der Untergang und die Grüße wieder einmal schneller, als je irgend jemand gedacht haben könnte. Und wer kann in Neptuns Reich noch klar denken? Sie nicht.
Sie hatte schon immer ein paar Probleme mit Stringenz. Wenn ich blaue Augen habe, habe ich keine grünen, und wenn die Nacht fällt, dann ist es nicht unbedingt hell, aber das Ganze war irgendwie sehr albern, und ich verstehe bis heute nicht, wie es gekommen ist, wie ich nicht verstehe, dass etwas unsinkbar sein soll, wie man überhaupt behaupten kann, es könne etwas unsinkbar sein, wie der Schwachsinn den Schwachsinn überholt und ihm noch guten Tag sagt, während schon alles zum Meeresgrund hin strebt, und die Fische stinken und etwas verdutzt schauen, weil das überhaupt nicht hierhin gehört, so ein Ding mit aufgerissenen Augen innen drin und so zielstrebig.
Ich hätte sie gerne noch ein wenig gestreichelt, wenn das irgend möglich gewesen wäre, wenn man etwas festhalten könnte, was diesen unbändigen Drang nach unten in sich beherbergt, aber es ist nun einmal nicht so, und der Stein des Sysiphus oder wie auch immer, hat ebenfalls das getan, was er wollte, immer das getan, was er wollte, und wenn er über Leichen gerollt ist. He, das ist mir egal, und ich könnte einige schlimme Sachen sagen über diesen Stein, wenn er mir nicht so unglaublich gleichgültig wäre, weil er niemals in seinem Leben eine Muschel in der Hand gehalten hat, die, wie meine, kaum existent war, die vielleicht nicht einmal existent war.
Was nach unten gehört, bewegt sich nach unten, das habe ich schon in der Schule gelernt, und wenn das Schiff aus Metall gebaut ist, dann gehört Metall zum Erdmittelpunkt und geht auch dahin, und wenn sie für den Himmel gemacht ist, die Seele, dann verstehe ich nicht, wie sie sinken kann, und wenn der Teufel nicht unten wohnt, wohin kann ich überhaupt noch sinken, wenn nicht ins Detail. Wenn wir aus Holz wären, dann könnten wir schwimmen, wie scheinbar das Dach, auf dem die letzten Seligen ihrer Rettung harren: Aber ich lächle sie nur an, denn ich weiß, dass das Dach, von dem sie denken, es SEI aus Holz, auch aus Metall ist, was soll das, wir leben in modernen Zeiten, und der Mensch wächst mit seinem Baumaterial. Mein soziales Wesen wünscht viel Glück, und ich wende dem Meer meinen Rücken zu. Ich halte eine Muschel in der Hand, die ich fallen lasse, weil sie mir zu schwer ist, und ich reibe mir den Sand von den Händen und lasse die Nacht Tag werden, wenn ein Ende überhaupt irgend einen Nutzen bringt, weil es tiefer ist, als ich denke.