Morgen

von Dagmar Steigenberger

 

Graue Quader pulsieren einem entgegen, unter der Schuhspitze im immer gleichen Takt. Der Kopf noch müde, hängt der Nacht hinterher. Er will nicht gehoben werden, nur nicht frühzeitig in die geschäftige Welt einbrechen; nein - hinauszögern solange es nur irgend geht. Stimmengewirr und ein Haufen von Beinen, die stur stehenbleiben. Es geht nicht mehr, mußt du wohl doch deinen Kopf heben.
Zwischen den vielen Mänteln und Beinen ein Kleiderhaufen, ein lallender Penner wohl, aber was ist daran so interessant? Muß man nicht gleich den Weg blockieren.
Die Masse verläuft sich, während du mit stierem Blick dastehst. Dinge gehen dir durch den Kopf, die du heute nacht geträumt hast. Wirres Zeug. Beobachtet fühlt sich die Person am Boden und starrt zurück. Zwingt dich geradezu, sie wahrzunehmen. Und plötzlich bemerkst du das Sonderbare an ihr: den reinlichen Schlafanzug, die Sauberkeit. Sogar die Fußsohlen sind weiß geblieben inmitten des Straßendrecks. An ihr hängt noch der Geruch der Bettwärme, und das gepflegte blonde Haar hat sich etwas verlegt, so daß der sonst akkurat gezogene Scheitel verwischt. Die Frau ist vom Himmel gefallen.
Inzwischen ist sie aufgestanden und läuft mit den Augen die Häuserketten ringsherum ab. Du legst ihr deinen Mantel um die Schultern, den sie mit einem flüchtigen Lächeln und „Vielen Dank!„ annimmt. Aber sofort vertieft sie sich wieder in die genaue Musterung der Umgebung.
Währenddessen beginnt sie zu denken: „Ich bin hier nicht eingeschlafen, ganz sicher bin ich hier nicht eingeschlafen. Lag doch im Bett gestern Abend.„ Sie kratzt sich am Haaransatz. „Gestern Abend. Was hab ich zuletzt gemacht? Den Wecker gestellt - nein, ist ja Sonntag.„ - „Dienstag„, verbesserst du sie und zeigst ihr als Beweis das Datum auf deiner Uhr. Sie zieht die Augenbrauen zusammen, und jetzt erst scheint sie ihre unangemessene Kleidung zu bemerken. Mit peinlich gerötetem Gesicht zieht sie den Mantel enger um sich.
„Ich muß heim!„, erklärt sie dir sehr bestimmt.
Du bringst sie in die Wohnung. Dort könnte sie vielleicht etwas zum Überziehen von deiner Frau haben. Die bringt gerade euer Kind in den Kindergarten, jedenfalls ist sie nicht da.
Die Fremde gibt dir deinen Mantel zurück, zieht ihren Pyjama aus und überreicht ihn dir. Sie will etwas anderes dafür, und du schläfst mit ihr. Danach steht sie auf, schlüpft in Hosen und Bluse deiner Frau, während du die Armbanduhr wieder anlegen willst. Anstatt dessen greift deine Hand einen Wecker, der nicht funktioniert. Die Kommode, auf der er steht, ist mit Plastik furniert und an den Ecken abgestoßen. Im Teppich verkrümeln Essensreste. Überhaupt ist die ganze Wohnung so verdreckt, daß du an die Wohnungsauflösung einer kürzlich verstorbenen Verwandten denken mußt. Es ekelt dich, du drehst dich weg.
Durch das Fenster siehst du Wolkenkratzer, wie in Amerika. Und sie lehnt an der Tür zum Balkon und meint: „Es ist gar nicht möglich, daß ich hier stehe, wenn ich doch als letztes im Bett war. Daheim - verstehst du? Ich bin in meinem Bett eingeschlafen, daheim. Wenn es ein Traum ist, muß ich aufwachen, sobald ich springe. Das war immer so, bisher.„ Dann springt sie.
Du organisierst den Leichenwagen.
Sie, noch im Schlafanzug und mit verlegtem Haar, trinkt ihren Morgenkaffee.