Jahresausgabe 1999: Service
Neue russische Gegenwartsliteratur
von Anna Ananieva
Schlange, Fluß und fremdes Terrain - Erkundung
einer literarischen Landschaft
"Zeichen & Wunder" Vierteljahresschrift für
Kultur
Frankfurt am Main - Mainz - Wiesbaden
Themenheft: Neue russische Literatur in Erstübersetzungen
10. Jg./ Nr. 35 März 1999. 78 S., 8,- DM
Da wir mit der Präsentation der aktuellen Ausgabe der Kulturzeitschrift
"Zeichen und Wunder" einen mutigen aber unbeirrten Schritt
auf das Gebiet des russisch-deutschen Literaturverhältnisses
tun, möchte ich Ihnen zum Einstieg eine kleine Skandalgeschichte
erzählen, die auf besonders drastische Weise deutlich macht,
wie brüchig und tückisch das Eis ist, auf dem sich der
Literaturtransfer zwischen diesen beiden Länder abspielt.
Da haben sich im vergangenen Jahr eine deutsche Autorin und ein
russischer Autor zusammengesetzt und beschlossen, einen gemeinsamen
Roman zu schreiben.
Das Konzept ist vielversprechend und birgt alle Ingredienzien eines
zukünftigen Erfolgsromans in sich. Kunstvoll zwischen literarischen
Traditionen und moderner Experimentierlust oszillierend, sich an
festgefahrenen Mythen und eingeübten Vorurteilsstrukturen reibend,
nicht zuletzt auch angetrieben durch die erotische Spannung, die
sich zwischen ihr und ihm entwickelt, verschränken sich die
beiden Erzählstimmen ineinander, setzen ein turbulentes Wechselreiten
der Erzählebenen in Gang, entsteht eine dritte, übergreifende,
vom Leser zu entwerfende überpersönliche Erzählstimme,
die sich aus den beiden Autorenstimmen heraushebt. Ein höchst
ungewöhnliches, wenn nicht einzigartiges Romanprojekt ist das
Ergebnis, ein Meilenstein innerhalb des Stromes des russisch-deutschen
Kulturverhältnisses - hätte dieser Roman sein können!
Auf die näheren Details bin ich in dem von mir zu verantwortenden
Rezensionsteil der vorliegenden Ausgabe von "Zeichen und Wunder"
eingegangen.
Dass diese Koproduktion wider Erwarten gerade nicht als rühmliches
Beispiel in die Annalen des deutsch-russischen Kulturtransfers eingehen
wird, liegt schlicht und ergreifend daran, dass der Leser in Russland
buchstäblich nichts von diesem Gemeinschaftsunternehmen erfahren
wird. Bei der in Russland erschienenen Version des Romans mit dem
Titel "Pjat rek zhizni" ("Fünf Flüsse des
Lebens") hat man nämlich kurzerhand und, wie man hört,
gegen alle vorherigen Vereinbarungen, ausnahmslos alle die Passagen
hinausgeworfen, die von Gabriele Riedle verfasst sind.
Übrigens ist dieser Skandalgeschichte ein zweiter Skandal
eingeschrieben, der nämlich, dass das gesamte versammelte Hochfeuilleton
es geflissentlich versäumt hat, auf die genannte Verstümmelung
in der russischen Version des "Flusses" aufmerksam zu
machen. Ich denke, man sieht es mir nach, wenn ich da mit einer
gewissen Emphase, die sich auch mit ein bißchen Stolz mischt,
darauf verweise, dass die vorliegende Ausgabe von "Zeichen
und Wunder", das einzige Publikationsorgan ist, das diesen
Zusammenhang aufgerollt hat.
Es erscheint mir heute wichtiger denn je, gerade in Fragen des
interkulturellen Literaturtransfers, einen möglichst differenzierten
Einblick in die Denkgewohnheiten und Handlungsbedingungen des jeweils
anderen Kulturbereiches zu gewinnen.
Der Versuch, für das deutschsprachige Publikum einen unverstellten
Zugang zu einem Teilbereich der zeitgenössischen russischen
Prosa zu eröffnen, wurde in der hier vorgestellten Ausgabe
der Kulturzeitschrift "Zeichen und Wunder" unternommen.
Wir leben nicht nur im Zeitalter des internationalen Kulturtransfers,
sondern auch im Zeitalter der Text-Bild-Korrespondenz und ich möchte
daher meine kleine Zeitschriftpräsentation mit einem Hinweis
auf die Holzschnitte von Peter Gourfain beginnen, die nicht nur
die ihnen innewohnende künstlerische Qualität eigenständig
zum Ausdruck bringen, sondern sich auch auf subtile Weise in Beziehung
setzen zu den sie umrahmenden Texten und so diesen eine ganz eigentümliche
Note verleihen. Ein, wie ich meine, in diesem Fall gelungenes Abstimmen
eines westlichen mit einem östlichen Kunstprojekts.
Der aktuelle Band der "Zeichen und Wunder" versammelt
Texte dreier Autorinnen, es handelt sich dabei um Nina und Jekaterina
Sadur, Manana Menabde, und dreier Autoren, Andrej Tru, Igor Klech,
Aleksej Warlamov, die hier in ihren deutschen Erstübersetzungen
von Hannelore Umbreit präsentiert werden. Die russische Prosaliteratur
der letzten Jahre wird dabei in ihren unterschiedlichen Facetten
zum Aufscheinen gebracht.
Hannelore Umbreit hat in ihrer Einführung die Auswahl der
Texte unmißverständlich in einen sozio-politischen Kontext
gestellt und vor dem Hintergrund der Zusammenbrüche in der
ehemaligen Sowjetunion beleuchtet. Auch das Motto des Bandes, ein
Zitat von Nina Sadur, "Diese Zeit, so furchtbar zum Leben und
so fruchtbar für Sujets" verweist nachdrücklich auf
diesen Ansatz.
Ich möchte diesen vorgegebenen Zusammenhang an dieser Stelle
nicht weiter ausführen, nicht zuletzt, weil ich auch der Gefahr
entgehen will, mich letzten Endes auf einer Ebene des Lamentos über
die Krisenzeit und das Risikoland einzunisten. Statt dessen möchte
ich den Versuch unternehmen, die vorliegenden Texte der gegenwärtigen
Literaturentwicklung im russischsprachigen Raum zu zuordnen. Ich
benutze diesen Terminus bewußt. Die erste Konsequenz, die
wir als Literaturinteressierte aus dem Zerfall der Sowjetunion ziehen
sollten, ist, dass wir nicht mehr einfach von russischer Literatur,
sondern gezielt von einer Literatur des russischsprachigen Raumes
sprechen sollten.
Es fand seit 1991 eine gewisse "Regionalisierung" der
literarischen Existenzform statt. Die russische Sprache, von jeher
Staatssprache, wurde plötzlich/konsequent zu einer Sprache,
die ihre dominante Rolle eingebüßt hat. Man denke dabei
an die Ukraine, die drei Baltischen Staaten, die neuen Republiken
in Mittelasien oder, ein nicht zu unterschätzender Faktor,
die im Westen lebenden russischsprachigen Literaten. Diese neue
Existenzform stellt selbstverständlich neue Fragen, bringt
mit sich neue Probleme der kulturellen Selbstbestimmung der in unterschiedlichsten
Kulturumgebungen lebenden russischsprachigen Autorinnen und Autoren
- es verändert sich der Ton eines Lyrikers und der Blickwinkel
eines Erzählers.
Die im vorliegenden Band repräsentierten Autoren Igor Klech,
Andrej Tru und Manana Menabde können als geradezu paradigmatisch
für diese Entwicklung angesehen werden.
Igor Klech - stammt aus Ljwow, in der Ukraine. 1998 erschien sein
erstes Buch, eine Sammlung von Erzählungen und Essays aus den
Jahren 1970-1990. Eine ausgesprochen starke schriftstellerische
Indiuvidualität; mitreißende intellektuelle Konstruktionen
stehen in seiner Prosa neben der hohen Reflexion, beinahe Bekenntnishaftigkeit,
und einer besonderen Art des ästhetischen Radikalismus. Seine
verschnörkelte, eigenwillige, oft als "barock" bezeichnete
Sprache, erinnert den Leser unaufdringlich aber unentwegt an die
westukrainischen kulturellen Wurzeln des Autors.
Manana Menabde - eine in Tbilisi (Georgien) geborene Künstlerin,
wuchs dort zweisprachig auf und lebt seit 1992 in Berlin. An dieser
Stelle möchte ich mich auf den Text des Einleitungsessays von
Hannelore Umbreit beziehen: "Mit der Bewahrung der Tradition
zugleich die Tradition zu brechen. Und in allen Weltenwechseln zuerst
sich selbst treu zu bleiben. Gewiß erklärt Manana Menabdes
wechselvolle Zeit- und Kulturverflechtung - neben ihrer tiefen Religiosität
- auch die Vorliebe dieser Autorin für eine literarische Form,
die das Allgemeingültige, Strenge, Disziplinierte, von sekundären
Details Befreite in den Mittelpunkt stellt, nämlich die Pritscha,
das Gleichnis"
Andrej Tru (Truschkin) - geboren 1964 in Kansk (Sibirien) in einer
Familie mit unterschiedlichen - auch deutschen - ethnischen Wurzeln,
kam er 1981 nach Moskau, um Journalistik zu studieren. Sein Beispiel
könnte unter anderen für Literatur außerhalb traditioneller
literarischer Publikationen stehen, genauso wie für die Tatsache,
dass immer weniger Schriftsteller allein von Literatur leben können.
Als typischer "Nebenerwerbsliterat" verbindet er das Schreiben
mit Verpflichtungen als stellvertretender Chefredakteur zweier Hochglanz-Jugendjournale.
Der Anfang der 90er Jahre zeichnet sich für die russische
Literatur durch die Auflösung des zentralen Schriftstellerverbandes,
durch das Pathos der von "bad boy" Viktor Jerofejew für
tot erklärten Sowjetliteratur ab und steht unter dem Zeichen
der freien Marktwirtschaft.
An der Stelle der ehemaligen "gemeinsamen Schriftstellerfamilie"
bilden sich andere unzählige Autorenvereinigungen. Als Antwort
auf Jerofejews "Leichenschmaus" und gegen alle Prognosen
der Literaturkritik - reifte eine besonders reiche Ernte der sogenannten
"dicken" Literaturzeitschriften heran. Die literarische
Landschaft am Anfang der 90er Jahre zeichnet sich durch Mannigfaltigkeit
und Textvielfalt aus. Allein im Jahr 1992 veröffentlichen die
Zeitschriften "Znamja" "und "Novyj Mir"
zum ersten Mal u.a. folgende Texte: "Meine Zeit ist die Nacht"
von Ljudmila Petruschewskaja, "Der Süden" von Nina
Sadur, "Sonetschka" von Ljudmila Ulitzkaja, "Guten
Tag, Graf" von Aleksej Warlamow.
Nach und nach bewegt sich die sogenannte "andere" russische
Literatur ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn nicht immer der Leser,
dann desto sicherer der Literaturkritiker. Im gleichen Jahr wird
Wladimir Sorokin als "der schrecklichste und der vielversprechendste
Schriftsteller der modernen Epoche" bezeichnet, und der erste
Text Viktor Pelewins "Omon hinterm Mond" genießt
eine besonders hohe Wertschätzung seitens der Literaturkritik.
Das sind alles Autoren und Autorinnen, deren Namen auch jetzt, in
dem letzten Jahr des Jahrzehntes, für die moderne russische
Prosa stehen und mittlerweile in deutscher Übersetzung zugänglich
sind.
Es findet eine Neuaufteilung des literarischen Raumes statt. Auf
neue Publikationen der modernen Klassiker, wie Fasil Iskander, Andrij
Bitow oder sogar Wladimir Makanin, reagiert man mit wenig Enthusiasmus,
wenn nicht mit Ironie. Dafür finden sich immer öfters
in den "dicken" Literaturzeitschriften lange Artikel,
die sich mit den Texten bis dahin völlig unbekannter Autoren
wie Viktor Pelewin oder Michail Nowikow auseinandersetzen. Es zeichnen
sich zwei Tendenzen in dieser "neuen" "anderen"
Literatur ab.
Das ist einerseits die Literatur der russischen Postmoderne, die
Soz-Art, Konzeptualismus, Kritischer Sentimentalismus vereinnahmt,
mit Autoren wie Wladimir Sorokin, Viktor Pelewin, Dmitrij Galkowskij,
Anatolij Koroljew, Nina Sadur, Aleksander Borynja, Jurij Malezkij,
Zufar Gareejw.
Zwei Texte von Nina Sadur finden sich in dieser Ausgabe. In gewisser
Weise steht ihr Name für die Fortsetzung der Gogolschen Tradition:
Mystik und Groteske, obwohl auf die postmoderne Art vereinnahmt
und in den Texten umgesetzt. In den späten 70er Jahren kam
sie aus Novosibirsk nach "Moskau, wo sie bereits als Studentin
des berühmten Gorki-Literaturinstituts mit innovativen Stücken
wie "Die seltsame Frau" oder "Die Kraft der Haare"
die Neue Welle der russischen Gegenwartsdramatik wesentlich gestaltet
und zu einer der meistgespielten Bühnenautorinnen wurde, mit
ihrer Mischung aus hoffnungsloser Wahrhaftigkeit der Darstellung
und ebenso auswegloser, bedrückender Fiktion, getragen von
einer poetisch spröden, ungebärdigen Sprache, in der die
Worte ein seltsames Eigenleben zu führen beginnen," wie
es Hannelore Umbreit in dem Einleitugsessay des Heftes formuliert
hat.
Ihre 1973 geborene Tochter Jekaterina Sadur debütierte 1995
mit eigenen Texten. Während der Überreichung der darauffolgenden
Auszeichnung der Zeitschrift "Znamja" wandte sie sich
proklamatorisch von der modernistischen Tradition ihrer Mutter ab
und erklärte: "Ich bin eine russische Realistin".
Die Ästhetik des neuen Realismus, auch Traditionalismus genannt,
erwacht und sammelt die Kräfte innerhalb derselben literarischen
Generation, der die russische Postmoderne zugeschrieben wird.
Aleksej Warlamov - zählt zu den führenden Vertretern dieser
Stilrichtung der zeitgenössischen russischen Prosa. Spannende
Unterhaltung des Sujets verbindet er mit der Gewichtigkeit der Thematik.
Durch alle seine Texte läuft als roter Faden: das Streben des
Autors, die "Viren" und Krankheiten zu erkennen und aufzudecken,
an deren Auswirkungen das Bewußtsein des russischen Menschen
von heute leidet. Hannelore Umbreit: "Warlamows literarischen
Mikrokosmos, den er so spannungsreich wie psychologisch tieflotend
erforscht, bilden die Abgründe seelischer Befindlichkeiten
von Großstadtmenschen in der haltlosen, flüchtigen russischen
Welt, Idylle und Hölle zugleich. Beschrieben mit einer absichtlich
nicht-flüchtigen, unaufgeregten Sprache, die sich noch Zeit
nimmt für die Gedanken der Protagonisten, für komplizierte
Satzgebilde und in ihrer Schmucklosigkeit und Geradlinigkeit."
1995 bekam Aleksej Warlamow den Preis für die beste Erzählung
des Jahres, vom Leipziger Literaturclub "Lege Artis";
und den russischen Preis "Anti-Booker" für seine
Erzählung "Die Geburt", eine der ersten literarischen
Antworten auf die politischen Ereignisse in Russland im Oktober
1993.
In den 90er Jahren werden die Verhältnisse innerhalb des Literaturbetriebs
zunehmend komplizierter. Es mehrt sich die Zahl der möglichen
Oppositionslinien, sowohl auf der ästhetischen als auch auf
der politischen und wirtschaftlichen Ebene. Verschiedene Strategien
der Autoren führen zu gegensätzlichen literarischen Verhaltensmustern,
sie reichen von der Orientierung auf den potentiellen Leser sprich:
Käufer, bis zur Orientierung nur auf sich selbst, den Autor.
Die ideologisch bestimmte Zensur existiert nicht mehr, an ihrer
Stelle tritt jedoch eine andere Zensur auf, die der Marktwirtschaft.
Das jeweils maßlose Klischee "der breiten Lesermassen"
verschwindet aus dem Sprachgebrauch und wird ersetzt durch einen
nicht von einem Leser, sondern von dem Verkaufserfolg eines Buches
ausgehenden Begriff "Bestseller".
Die sich verändernden Zeiten riefen eine Massenliteratur hervor,
die sich einer anderen Sprache und eines anderen Genresystems bedient:
heute beherrschen Fantasy, Mystik, Krimi, Thriller, Liebesromane,
Biografien und Fortsetzungsromane den russischen Büchermarkt
auf dem Sektor der Unterhaltungsliteratur. Das bedeutet oft einen
hohen Grad an Mängelware, aber auch einen freiwilligen, interessierten
Leser.
Um das Bild der russischsprachigen Literaturlandschaft der 90er
zu vervollständigen, wird in dem Rezensionsteil der vorliegenden
Ausgabe von "Zeichen und Wunder" die Brücke zu den
Texten zweier weiterer Autoren geschlagen. Viktor Jerofejew und
Aleksandra Marinina zählen zu dem Establishment des heutigen
Büchermarktes in Russland und ihre Werke erregen seit kürzerer
Zeit auch auf dem deutschen Büchermarkt Aufsehen.
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