Jahresausgabe 1998
Mit dem Auge des Mannes
von Marianne W. Bayer
Ich liebe Bahnreisen. Zwar das herrliche Panorama hinter den Fenstern
kenne ich nur vom Hörensagen, es ist zu groß für
mein Auge - ich habe bloß eins. Aber ich sehe die Menschen
im Zug an, denn nirgends sonst kreuzen sich so viele Lebenswege.
Auf dem Sitz gegenüber die schmale braune Frau reist allein.
Zuerst sehe ich ihre kleinen Füße. Sie schmiegen sich
in zimtbraune Pumps aus geflochtenen Lederbändchen, ovale Pumps
mit kleinem Absatz, nicht breit und nicht schmal. Die Pumps mit
dem Spann der Füße darin gehen nahtlos in schmale, zimtbraun
glänzend bestrumpfte Beine über. Nie sah ich Schuhe, die
so wie diese für ihre Füße geschaffen sind! Sonst
überall breite, schwere Plateauschuhe und froschmäulige
Treter und schwarze, spitzdreieckige Sündentanzschuhe mit hohen,
schmalen Säulen als Absatz - Schuh-Architektur überall,
aber kein Frauenfuß. Das hier sind wahre Füße,
zum ersten Mal!
Jetzt sehe ich die ganze kleine Frau. Rock mittelkurz aus grobem,
zimtbraunem Wollstoff, sandfarben gestrickter Pullover eng um die
zarte Büste, und eine dicke braunkarierte Reisetasche neben
ihr - alles sehr rührend und britisch und gar nicht modern.
Langer schmaler Hals und sandfarbenes wohlfrisiertes Haar bis zu
den Ohrläppchen, zarte Sommersprossen im blaßbraunen
kleinen Gesicht. Ihr Alter ist schwer zu schätzen, sie könnte
vierzig sein, aber sie wird mit zwanzig nicht anders ausgesehen
haben. Vielleicht war dies Aussehen damals die Ursache dafür,
daß sie jetzt allein reist und keinen Ring trägt.
Ob sie zugänglich ist?
Ein Mann sollte sie ansprechen, er sollte sie öffnen, zum Blühen
bringen - sie ist gewiß fleißig und sparsam und tief
empfindend, und für den Mann viel süßerer Sieg als
all die fleischvollen Mädchen in schwarzen Leggings und buntlustigem
weiten Hemd.
Warum ich sie nicht anspreche?
Weil ich eine Frau bin.
Ach so - hmm. Aber du könntest sie doch trotzdem ansprechen!
Nein, nein, das hat gar keinen Zweck. Denn ich sehe meine zarte
Schwester mit den Augen des Mannes, den ich liebe. Er konnte nicht
alle Blüten bergen - es gibt ihrer zu viele, und zu wenige
Männer wie ihn.
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