Jahresausgabe 1999:

Die Hüterin der Zeit
Erstes Blatt
Luft

von Anja Fischer

 

Hanna hatte kein gutes Gefühl, als sie in die Hazelroad einbog. Es war eine Gegend mit heruntergekommenen Reihenhäuschen, in deren verwahrlosten Vorgärten nicht minder verwahrloste Kinder spielten. Einmal mehr bereute sie es, sich bei dieser studentischen Arbeitsvermittlung gemeldet zu haben. Aber sie war auf das Geld angewiesen, und so lange sie nichts anderes fand, mußte sie wohl oder übel an immer neuen Arbeitsstellen ihr Geld verdienen. Natürlich hatte sie auch Stellen gehabt, an denen sie gerne länger geblieben wäre, doch in der Regel wußte sie nicht, auf welches Abenteuer sie sich einließ, wenn sie wieder einen neuen Job bekam.
In der Vermittlung hatte sie noch einmal nachgefragt, ob es wirklich die Hazelroad Nummer fünf sein sollte, denn dort wohnten nicht gerade Leute, die einem so ohne weiteres einen Stundenlohn von zehn Pfund anboten. Ein Privathaus, kein Büro!
"Es ist eine süße alte Dame, die noch ältere Handschriften hat und sie von dir kopiert haben möchte. Morgen, vierzehn Uhr, Hazelroad fünf", hatte die Vermittlerin geantwortet.
Es war schon kurz vor zwei. An den meisten Häusern suchte sie vergeblich nach einer Hausnummer. Gesichter verschwanden hinter Vorhängen. Mit ihrer runden Nickelbrille, der Baskenmütze und dem Dufflecoat fiel sie in dieser Gegend auf wie ein bunter Hund. Sie fühlte sich unwohl inmitten dieser Armut, denn sicher hatte hier niemand auch nur die Möglichkeit gehabt, eine Highschool oder gar eine Universität zu besuchen.
Auf der rechten Seite der Straße waren die geraden Nummern. Auf der linken sah sie Nummer drei und sieben, dazwischen, etwas zurückgesetzt, ein Häuschen, das eher wie ein Holzschuppen anmutete. Der einsetzende Regen verschleierte ihre Brillengläser. Sie blieb stehen, schob die Brille auf ihrer krausgezogenen Nase nach oben und versuchte, an dem Schuppen etwas zu erkennen, das eine Hausnummer sein könnte. Das war typisch für sie. Sie kam auf die absurdesten Ideen - eine Eigenschaft, für die sie oft den Spott ihres Freundes Michael einzustecken hatte, der als Student der Wirtschaftswissenschaften über derartige Zweifel natürlich erhaben war. In einem solchen Schuppen konnte niemand wohnen, niemand, der alte Pergamente besaß, für deren Kopie er zehn Pfund in der Stunde bezahlte. Glücklicherweise dachte sie in diesem Augenblick nicht an Michael, denn sonst hätte sie die kleine Fünf, die schief neben der Tür hing, vermutlich nicht gesehen. Aber die Fünf hing dort - unverkennbar. Zögernd ging Hanna durch den Garten, dessen Wildheit doch ein gewisses System erahnen ließ, denn zu beiden Seiten standen sich jeweils die gleichen Bäume und Pflanzen gegenüber, von denen Hanna allerdings die wenigsten mit Namen kannte.
Die Hütte stand wohl nur noch deshalb, weil sie zwischen den beiden Apfelbäumen keinen Platz zum Umfallen fand. Fensterläden hingen lose über zerbröselndem Mauerwerk, das von dem Sturzbach aus der kaputten Regenrinne immer weiter ausgehöhlt wurde. Auch die Reihen der Dachziegel waren unvollständig, wie Hanna mit einem vorsichtigen Blick bemerkte. Es gab keine Klingel, sondern einen Türklopfer in Form eines Tieres mit langer spitzer Schnauze und großen Reißzähnen. Dieses imposante Utensil wollte kaum zum übrigen passen, denn Hanna hoffte, das Gebäude durch ihr Klopfen nicht zum Einsturz zu bringen. Sie klopfte zunächst nur ganz zaghaft. Das Geräusch hallte wider, als verberge sich hinter der Tür ein riesiger Saal. Als eine Tür schlug, wehten hinter den blinden Scheiben zerschlissene Gardinen. Schlurfende Schritte wurden langsam lauter. Endlich hatten die Gänsehaut auf Hannas Körper ihren Höhepunkt und die Schritte die Tür erreicht. Ein schwerer Riegel wurde beiseite geschoben, worauf sich die Tür knarrend öffnete. Hanna hielt die Luft an. Was für einem Menschen mochte sie nun gegenüberstehen?
Das vertrauenerweckende Gesicht einer freundlichen älteren Dame kam zum Vorschein und bewegte Hanna mit einem verbindlichen Lächeln zum Eintreten. Hanna war so verwirrt beim Anblick der Lady, daß sie gar nicht hörte, wie sie sie begrüßte und um ihren Mantel bat. Es war in der Tat eine Lady. Ihr Haar war von leuchtendem Weiß. Als sie sich umwandte, um den Mantel aufzuhängen, sah Hanna, daß es auch sehr lang sein mußte, denn es war im Nacken zu einem ebenso ansehnlichen wie kunstvollen Knoten zusammengesteckt. Ihre Kleidung war zwar in keinem Modemagazin zu finden, nicht einmal in vergilbten Erstausgaben, aber von einer gepflegten Nachlässigkeit, die verriet, daß es für diese Dame wichtigere Dinge gab.
"Guten Tag!", sagte Hanna etwas verlegen, während sie sich noch mit leicht eingezogenem Kopf in der Eingangshalle umschaute: Es gab viele Türen, großartige Treppen mit dicken Teppichen, der Fußboden war mit solch kostbarem Parkett ausgelegt, daß man sich fast scheute, ihn zu betreten, und die hohe Decke endlich wurde von glänzenden Marmorsäulen getragen.
Hanna stand noch da mit offenem Mund, um sich den Stuck und die großen Vasen anzusehen, da hörte sie die Stimme der Frau. Sie war bereits hinter einer der vielen hohen Türen verschwunden, und Hanna, die noch einen letzten zweifelnden Blick auf die mächtige Eingangstüre warf, die sich lautlos geschlossen hatte, beeilte sich, ihr zu folgen.
Die Dame führte sie in eine Art Studierzimmer, wo ein gewaltiger Schreibtisch am Fenster stand, von dem aus Hanna in einen jener weitläufigen Landschaftsgärten blickte, wie man sie vor langer Zeit angelegt hatte. Der große Raum lag im Zwielicht, nur auf den Schreibtisch fiel das Tageslicht. Die Lady hieß Hanna dort Platz nehmen. Dann schob sie für sich selbst einen kleinen Schemel zum Schreibtisch. Bevor sie sich setzte, holte sie aus einer ledernen Kartusche ein aufgerolltes Pergament, das sie vor Hanna ausbreitete.
"Das soll ich kopieren?"
Die Dame überhörte geflissentlich das Entsetzen in Hannas Stimme, nickte ihr nur lächelnd zu und holte weitere Utensilien aus den Schubladen dunkler Eichenschränke.
Hanna schaute resigniert auf das Blatt, das sie kopieren sollte - mit der Hand! Es sah aus wie ein Himmel bei Sturm, Regen und Sonnenschein gleichzeitig: Hier wild aufgetürmte Wolken, von Blitzen durchzuckt, dort Regengüsse, die in Nebelschwaden übergingen, und schließlich feine Schleierwolken, durch die das Licht brach. Je länger sie das Blatt betrachtete - die Dame hantierte noch immer im Hintergrund - um so mehr erahnte sie in den Wolken, Nebelschwaden und dem Regen die Gesichter von Menschen und... einen Falken, dessen spitz zulaufende Flügel mit den Wolken verschmolzen.
Nun trat die Dame wieder an den Schreibtisch. Verschmitzt sah sie Hanna von der Seite an.
"Hören Sie, Misses..."
"Oh, entschuldigen Sie, Miss Roberts, ich habe mich gar nicht vorgestellt, O'Melly ist mein Name."
"Hören Sie, Miss O'Melly, warum legen Sie dieses Blatt nicht auf einen Scanner? Ich habe einen sehr guten zur Verfügung. Und der Drucker im Büro...ist...auch..."
Die Worte blieben ihr im Halse stecken, als sie beobachtete, wie die Lady unbeirrt fortfuhr, mit einem kleinen Messer Federn zu spitzen und eine schwarze, bröckelige Substanz in Wasser zu Tusche auflöste. Verstohlen sah sie auf ihre Armbanduhr. In drei Stunden fuhr der nächste Bus zurück. So lange würde sie mindestens hier bleiben müssen.
"Möchten Sie etwas trinken, Miss Roberts?"
Hanna nickte nur und starrte auf die Federn. Nachdem die Dame verschwunden war, wagte sie, eine der Federn in die Hand zu nehmen. Vorsichtig tauchte sie die Spitze in die Tusche und sah, wie ein dicker Tropfen der schwarzen Flüssigkeit von der Feder fiel. Sie streifte etwas von der Tusche am Rand des Glases ab, vergewisserte sich, daß nichts mehr tropfen konnte und zog eine Linie auf das frische Pergament, deren Feinheit und Anmut sie erstaunte.
"Oh, Sie haben schon begonnen - mit dem Flügel des ersten Falken."
Verwirrt schaute Hanna auf die Linie und dann wieder auf das Pergament. Tatsächlich wies ihre Linie denselben Schwung auf, wie der Flügel des Greifvogels.
"Wieso des ersten Falken? - Gibt es denn noch mehr?"
"Oh, ja. Dieser Falke ist der erste. Es ist natürlich ein Weibchen. Sie heißt Fatima. Suchen Sie die anderen!"
Hannas Augen suchten das Pergament ab. Waren die Vögel dort in den Wolkenbergen oder in den Schleierwolken, die so sanft das Ende des Sturms ankündigten?
In den beiden unteren Ecken, im Regen und im Sonnenschein, entdeckte Hanna die beiden anderen Falken fast gleichzeitig.
"Hier, diese beiden!"
"Ja, das sind sie. Drei Falken sind es im ganzen. Es ist gut, daß Sie zuerst den einzelnen Falken, die gute Fatima, entdeckt haben. Die beiden hier unten sind Firdes und Suleika. Sie gesellen sich zu Fatima, und so sind es drei Falken an der Zahl. - Ich werde Sie nun ganz allein lassen. Wie ich sehe, hatte ich ganz recht mit meiner Wahl", sagte die Frau, während sie Krug und Glas neben Hanna abstellte und ihr einschenkte. Mit einer Handbewegung lud sie sie zum Trinken ein.
"Was ist das?" fragte Hanna, die diesen Geschmack noch nie geschmeckt hatte. Seltsam herb und süß zugleich, von einem fast schwarzen Rot.
"Es ist Holundersaft."
Die Frau verschwand nun, Hanna sah sich allein in dem dämmrigen Arbeitszimmer, betraut mit einer geradezu bizarren Aufgabe und bewirtet mit einem doch sehr merkwürdigen Getränk.
Sie tauchte noch einmal die Feder in die Tusche und begann, die sonderbaren Linien aufs sorgfältigste nachzuzeichnen. Feine kurze Linien schlangen sich ineinander und ergaben ein filigranes Gitter wie bei einem Kupferstich. Doch bestand dieses Gitter bei genauerem Hinsehen - aus Buchstaben! Sie versuchte, die Wörter zu lesen, doch erst beim Schreiben eröffnete sich ihr der Sinn: ...

Anja Fischer
Die Hüterin der Zeit. Roman
Fernwald: Litblockin-Verlag 1999. 260 S. ISBN 3-932289-37-4