Jahresausgabe 1999: Service

Martin Krauss und seine ‚Kamille'

von Rolf Haaser
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Martin Krauss: "Kamille" - Prosa mit Zeichnungen von Heinz Seibert.
Gallimathias Verlag, Fulda 1999. 96 Seiten
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Für mich das wichtigste, das die mittelhessische Literaturszene in den letzten Jahren hervorgebracht hat, wobei ich mich selbst nicht ausnehme. Mein Gruß an alle Kollegen und solche, die sich anheischig machen es zu sein, die ‚Kamille' von Martin Krauss setzt einen Maßstab, auf den sich zu beziehen für die eigene Standortbestimmung oder das eigene Fortkommen nur von Vorteil sein kann. Nehmen wir zum Beispiel die Anfangspassage aus dem Text "Nacht" und fragen wir uns dabei, wer sonst noch unter unseren derzeit literarisch Aktiven in der Lage ist, etwas annähernd Vergleichbares hervorzubringen:

"In der Nacht fliegen die Fenster zu, vom Licht, das durch die Gänge fegt. Nacht draußen überall, in jeder Ritze, auch auf dem hellsten Stein. Nacht ist, wenn aus den Häusern Husten tönt, wenn rastloses, wortloses Klappern auf säuerlich duftenden, warmen Winden durch fliegennetzbespannte Bäckereifenster weht.
Nacht draußen: die Menschen zu Klumpen verschmolzen, untereinander. Der auf der Parkbank tröstet den Schlaflosen. Der Krankenhauspförtner studiert Mordmethoden. Die Mörder schlafen ruhig. Von einer verlorenen Münze reflektiert, leuchtet der Mond in ein Kirchenfenster."

Das neue Buch von Martin Krauss ist gespickt mit solchen Trouvaillen. Wer es liebt, im verschwiegenen Charme der leisen Töne zu schwelgen, der findet in Martin Krauss einen Könner dieses Metiers. Robert Walser und Peter Bichsel hätten für diese Kurzprosa Pate gestanden haben können. Wer immer schon mal wissen wollte, was eigentlich literarische Kunst ausmacht, der hat hier ausreichend Gelegenheit, dieses zu studieren. Das bloße Lesen des Bändchens leistet einem kaum genüge, man möchte sich am liebsten regelrecht hineinschreiben in diese Momentaufnahmen aus den Rändern der Orte und den Ritzen der Zeit, in diese sechsundvierzig miniaturhaften Umrißzeichnungen von enormer, nicht nachlassender Suggestivität. Man bedauert nur, daß man den Autor nicht begleiten kann auf seinen einsamen Gängen, daß man die Ergebnisse seiner literarischen Fischzüge nicht in statu nascendi auskosten kann und daß man ihm nicht ablauschen kann, wie er die Werkzeuge seiner intensiven Wahrnehmung, seiner ausgebildeten Sensitivität gebraucht. Harte handwerkliche Arbeit und ein ungewöhnliches poetisches Talent gehen im Falle von Martin Krauss eine gelungene Verbindung ein, anders läßt sich für mich die bemerkenswerte Qualität dieser Kurzprosa nicht erklären. Man möge mir dieses bitte nicht als leere Rezensionsrhetorik auslegen, ich meine wörtlich, was ich hier sage. Martin Krauss ist ein echter Geheimtip, man kann ihm nur wünschen, daß die großen Verlage bald auf ihn aufmerksam werden. Ich wüßte nicht, wer derzeit bessere Voraussetzungen dafür mitbrächte als er.

Martin Krauss versteht es, die Schwingungen, die vom Bewegungslosen ausgehen, zu erspüren, ihre Wirkung zu beschreiben und ihren verwehenden Spuren gespannt nachzuhorchen. Er betrachtet die Landschaft durch die auf der Spitze stehenden Quadrate in den Trägerkonstruktionen der Hochspannungsmasten. Er ist in Lauterbach zu Hause und die topographischen Besonderheiten der Ausläufer des Vogelsberges sind zu Hause in ihm. Wer mit den Eigentümlichkeiten der Gegend vertraut ist, wird den hohen Grad der Authentizität bewundern, mit der all dies in die Kurzprosa von Martin Krauss eingeflossen ist. Aber das heiter Vertraute, das einen aus den Texten anlacht, bleibt nur für den ersten Moment vertraut, ist nur scheinbar unverbrüchlich. Unvermittelte Blickverkehrungen wenden das Blatt, das eben noch behaglich Anmutende erscheint plötzlich pointenhaft invertiert. Unter jedem Stein lauert eine mögliche Katastrophe, oft auch der Tod. Mitten im genüßlichsten Spaziergang wird man sich unversehens bewußt, daß man soeben dabei ist, durch ein Minenfeld zu stolpern. Dies findet auch eine virtuos gehandhabte Entsprechung auf den verschiedenen sprachlichen Ebenen. Scheinbar harmlose Sätze lassen unvermittelt aufscheinen, daß sie unsichtbare Sprengsätze bergen. Da gibt es nichts Betuliches, nichts Monotones.

Unter anderem kreisen die Texte um die Frage: "Lassen sich Kollisionen vermeiden wie Begegnungen?" Ein Satz, den man sich auf der Zunge zergehen lassen kann. Es ist diese Art von verblüffender Tiefgründigkeit, oder besser: Untergründigkeit, der man in der Kurzprosa von Martin Krauss unentwegt begegnet, oder besser: mit der man ständig kollidiert, denn ausweichen kann man ihr nicht. Sie kommt jedesmal so überraschend und aus immer anderer unerwarteter Richtung, daß es einem einfach nicht gelingen will, sich dagegen zu wappnen. Und ich muß gestehen, daß ich mich durch diese Miniaturen habe hindurchkollidieren lassen, wie mir dies vorher lange nicht mehr passiert war. Und zwar mit ebenso großem Vergnügen und Genuß wie mit persönlichem geistigen Gewinn. Die lumpigen zwanzig Mark, die der Band kostet, sind entschieden zu billig.