Jahresausgabe 1998

In memoriam

von Nikola Herweg

 

"In Memoriam:" so heißt es am Ende der ersten Geschichte, und wer die nun folgenden Initialen entziffern kann, der weiß auch, welche großen Vorbilder der Autor Mark Tell Weber im Hinterkopf hatte, als er die Geschichten für seinen Erzählband "Verwandtschaft und andere unangenehme Erzählungen" ersann.
H.P.L. zum Beispiel - das sei hier verraten - steht für Howard Phillips Lovecraft, E.A.P. - wie könnte er fehlen - für Edgar Allen Poe, den Altmeister des anspruchsvollen Horrors. Die Liste der Autoren zeigt: Weber hat es besonders das letzte Jahrhundert angetan, und so wundert es nicht, daß viele seiner Geschichten im Sinne der "schwarzen Romantik" verfaßt sind. Auch seine Sprache orientiert sich an vergangenen Epochen, sie ist nicht sehr originell, den düsteren Inhalten aber angemessen, und mitunter besitzt sie große Ausdruckskraft und ist fähig, plastische Bilder zu erzeugen. Schön sind diese Bilder freilich nicht, eher beunruhigend. Und wenn Weber eine leere, stürmische Küstenlandschaft beschreibt, so greift das Böse, das gleich in diese eindringen wird, auch den Leser an.
Weber hat sich der "Gothic Novell", der Schauergeschichte, verschrieben. Selbst die Versuche, gelegentlich doch in andere Genres vorzudringen, würden - so der Autor - stets mißlingen und unabwendbar ins Phantastische abgleiten. Und ins Schaurige. Happy-Ends wird man bei Weber kaum finden. "Utopien werden nicht mehr geschrieben," konstatiert er und formuliert blitzschnell einen Aphorismus: "Horror ist die Anti-Utopie der menschlichen Psyche". Also keine Märchen-, sondern Horrorwelten. Da entpuppt sich der "Weg nach Hause" als Höllentrip, da heiratet einer in eine Familie ein, die offensichtlich mit teuflischen Mächten im Bunde steht und da durchbricht ein anderer die Zeitgrenzen und findet sich im 18. Jahrhundert wieder, das nur vorläufig einen freundlichen Empfang für ihn bereit hält.
Obwohl der Horror stets im Mittelpunkt der acht Erzählungen steht, und man es schnell aufgibt, auf glückliche Enden zu hoffen, gelingt es Weber, die Spannung aufrecht zu erhalten und wartet dem Leser mit immer neuen überraschenden Wendungen auf.
Das Schreiben hat es Weber, der 1965 geboren wurde, von je her angetan. Versuchte er sich erst nur an "Plagiaten", schrieb er also Geschichten bekannter Autoren um oder neu, so wagte er sich seit Anfang der 90er auch an eigene Texte. Die Entstehung der in "Verwandtschaft und andere unangenehme Erzählungen" versammelten Geschichten geht bis in diese Zeit zurück. Der Anglistikstudent überarbeitete sie immer wieder, bis er sie nun für druckreif erachtete und gemeinsam mit seinem Verleger zu einem Erzählband zusammenfaßte.
Es ist nicht sein erster Auftritt in der Veröffentlichkeit - vor "Verwandtschaft" war Weber bereits bei etlichen Lesungen im Gießener Raum zu hören, und erschien eine frühere Version der Erzählung "Insel der Verfluchten", die nun überarbeitet auch im neuen Buch zu finden ist, in der Anthologie "Zungenschnalzen". Aber "Verwandtschaft" ist doch Webers erstes Buch. Ein Ende der Arbeit an den Geschichten ist dennoch nicht in Sicht, auch wenn "Überarbeiten Quälerei ist", wird Weber doch weiter an neuen und alten Texten feilen, immer mit den ganz Großen im Hinterkopf: H.P.L., E.A.P., E.T.A.H., ... .
"Verwandtschaft und andere unangenehme Erzählungen" von Mark Tell Weber (144 Seiten) ist in der Edition Zollstock erschienen und kostet 25 Mark.