Jahresausgabe 1998
Z.B. die Blonde
von Hess Paul
Z.B. gibt es die eine, eine Blonde mit Engelsgesicht,
die ihm nicht gefällt aufgrund ihres gar lieblich Antlitz',
sondern weil sie selbstsicher stets alleine nur ist. Zumindest macht
sie auf ihn den Eindruck als ob; und ist nie mit einer anderen zu
sehen, geschweige denn mit einem anderen. Kürzlich, in der
Bücherei, kam sie ihm unter: die Augen nämlich und brachte
es dabei zu einem Blitzlächeln; das sind die kleinen Freuden
des Alltags, davon läßt sich zehren ein, zwei Stunden.
Sie also, die Blonde, nach ihrem Blitzlächeln, verläßt
die Bücherei, in die er will. Schade, denkt er sich, aber egal,
denkt er sich, weil: was soll's. Er, drinnen, sucht ein botanisches
Buch, wahrscheinlich weil ihn das, so etwas interessiert, warum
nicht, so ein botanisches Buch kann informativ sein, wenn mensch
gewisse Voraussetzungen mitbringt. Sie draußen, kommt wieder
herein, sieht ihn nicht, er dafür sie, aus einem Regalgang
heraus: sie. Er findet kein Buch, obwohl genügend herumstünden,
vielleicht interessiert er sich doch nicht dafür, nicht mehr
dafür. Sei's drum, es liegen noch Zeitungen herum und Zeitschriften,
darunter welche über Fotografie, dies beliebte Steckenpferd,
die er allesamt kennt, aber zwei sich nimmt und sich setzt damit
in ein tuchbespanntes Holzgerüst namens Sessel und die Füße
übereinandergeschlagen und geblättert. Das ist gemütlich.
Und so vergißt er ihre Anwesenheit. Aber sie ist nach wie
vor hier in der Bücherei. Es wird Zeit, sich daran zu erinnern:
für ihn. Was er tut? Sich erinnern.
Aber nein!, es war nicht an der Zeit, schon ist es weniger gemütlich,
das inwendig pochende Herz, bedeutend weniger gemütlich. Er
sucht und findet sie vertieft in ein Buch in einem stoffbespannten
Gurtsessel an einem Ort, der es unmöglich macht, sich ihr zu
nähern. Nämlich sitzt sie draußen, denn es ist heiß,
ist sommeranfang und eine Türe ebenerdig offen zwecks Kühlung
durch Luftzug. Und an diese Tür ist ein baumwolllgurtbespannter
Holzsessel gerückt, was verhindern soll, daß sie zufällt,
die Tür, falls der Wind das will. Wie bereits gesagt, sitzt
sie dort, in diesem Sessel, abseits, das gibt es, warum auch nicht,
obwohl er bei sich denkt, das dürfe nicht wahr sein, das darf
doch nicht wahr sein, aber sie sitzt nun mal dort, alleine, versunken,
abgesondert, unnahbar, alleine wie jederzeit, er sieht sie so nicht
erstmalig. Nicht daß er den Mut gehabt hätte, sie anzusprechen,
das nicht, doch es spricht Bände, ihr Verhalten. Sie will ihre
Ruhe. Das ist geheimnisvoll. Das reizt. Zumal er sich nicht vorstellen
kann, ein Mensch, der nie mehr wird durch andere, könne sich
wohlfühlen immerdar, könne sich wohl fühlen. Auch
sonst stets fünfplätziger Abstand mindestens zwischen
ihr und anderen, z.B. in Vorlesungen, wo er sie sieht, von ferne
meist nur. Sie studieren also. Zugegebenermaßen ein gewisser
Reiz, ein Mädchen, eine Frau eine Jung-Frau also zu erobern,
die unnahbar erscheint wie sie. Da schlägt das australopithekine
Jäger- und Sammlerherz pochpochpoch, schon deswegen, vor Aufregung,
weil mann möcht ja schon ganz gerne, dochdochdoch, aberaber...
Naja, es ermangelt eben des Mutes, als ob es etwas zu verlieren
gäbe. Sie wenigstens anzusprechen.
Oder:
Ein Hörsaal einer Universität. Es wird gerade Volkswirtschaft
doziert, die Reihen sind mäßig besetzt, es handelt sich
um StudentInnen der Agrarwissenschaften in Freising-Weihenstephan,
um das ganze mal zu verorten, keine drangvolle Enge oder dergleichen,
lockere Platzverteilung, er ist darunter und sie, warum nicht. Sie
soll heute einen Zopf tragen, das läßt ihr Haar gerade
so zu, es ist nicht schulterlang, gerade so noch nicht zu. Das nicht
zu bändigende Blondhaar umsträhnt lieblich ihr Gesicht.
Da sitzt er, dort sitzt sie: eine Reihe über ihm und seitlich
ein gutes Stück versetzt, so daß er sich wenden muß,
sie zu schauen. Er renkt sich oft, zu oft den Hals aus, um damit
unauffällig zu bleiben, um dabei unauffällig zu bleiben,
doch sie bemerkt es nicht, zumindest tut sie so: als ob sie nichts
bemerke. Der Dozent, begnadeter, angefetteter, unrasierter Sympath,
witzt wieder eine volkswirtschaftliche Schote aus seinem Familienleben,
nämlich: geht es um die Weihenstephaner Markenbutter, was naheliegt,
im blauen Papier mit silberner Aufschrift und Prägestempel.
Eine Butter wie jede andere, nur unverschämt viel teurer, 2
Mark 69, daß muß mensch sich mal vorstellen, für
500 g Butter: 2 - 69 Ausrufezeichen, und das bei den Butterbergen
der EG, als ob es sich um ein Luxusgut handele, eine Mangelware.
Ein genialer Schachzug der Weihenstephaner Molkerei andererseits,
aus einem homogenen Markt gleichartiger Produkte auszubrechen und
dem Konsumenten ein neues und anderes und besseres und edleres Produkt
vorzugaukeln aufgrund Verpackung und Prägestempel (wie Gütesiegel),
da weiß mensch, was er hat, auf's Brot geschmiertes Geld,
ungeheuerlich, dieser Betrug, unfaßbar gewissermaßen,
wenn auch clever, sehr clever. Was zum angeben also, wenn Besuch
kommt. Die frische, noch originalverpackte, prägegestempelte
Weihenstephaner Markenbutter, auf den Frühstückstisch
damit, wer kann dazu schon nein sagen, wer, frage ich, wir sind
ja hier nicht bei den armen Leut', sondern zu Besuch bei einer C2-Professur,
das ist locker drin im Gehalt einer C2-Professur, die Weihenstephaner
Markenbutter, zu der niemand nein sagen kann, locker ist soviel
Dummheit drin trotz C2-Professur. Alles lacht, der Mann hat Humor
und kann sich selbst auf die Schippe nehmen, sie lächelt, er
verliebt sich zwar nicht in sie, aber verliebt sich: in das was
er sieht und mit ihr in Zusammenhang bringt. Nämlich ihr T-Shirt,
wie gesagt, es ist Sommeranfang, ist weiß, durchscheinend
eng, ihr Busen unBHt und handfüllend schön, und während
er sie anstarrt, verändern sich, werden diese Brustwarzen steif,
die liebe Hörsaalklimaanlage, eindeutig: steif und damit begehrlich
und steigern seinen Zustand, den er gar nicht benennen könnte
in Ich-liebe-sie. Das bleibt den Rest der Vorlesung so.
Oder:
Ein Hörsaal, wieder ein Hörsaal. Vier Eingänge: links
und rechts und unten und oben, wo sie sitzt, weit oben, Nähe
Eingangstür. Von dort aus entnähmen seine akkomodationsschwachen
Augen projizierten Overhead-Folien oder Dias kaum noch verwertbare
Informationen, weswegen er soweit oben/hinten nicht sitzt, nie sitzen
würde. Es sei denn nach einer durchzechten Nacht, wenn mehr
die Anwesenheit und die noch alkoholschwangeren Augen glänzen,
weniger die geistige Präsenz. Wenn es peinlich wäre, alkoholhauchig
den Nachbarn, schlimmer noch: die Nachbarin zu vergraulen. Heute
aber nüchtern, wie eigentlich meistenfalls, also vorne, vorne/unten
sitzend, mit ihr eine Diagonale quer über die Auditoriumstribüne
ziehend, wenn sie denn zöge. Wie auch immer, auch ohne daß
sie zieht, kann er sie beobachten, weil er, falls sie oben links
sitzt, unten rechts sitzt. Wieder fällt seine Gafferei auf,
es stört ihn, aber was soll er machen, soviel Voyerismus muß
sein. Obwohl aus dieser Entfernung nichts zu erkennen ist von irgendeiner
Körperlichkeit. Was sie preisgibt während einer Vorlesung:
Aufmerksamkeit dem Dozenten, falls es ein er ist, was meistens der
Fall ist, gegenüber, zwischenpäusliche Müdigkeit
durch geschlossene Augen, zurückgelehnten Kopf. Sie hat die
Nacht durchgeweint, die Einsamkeit vielleicht. Macht ihr zu schaffen.
Wie sie ansprechen? Ständig allein und interesselos anderen
gegenüber, gibt sie Anlaß zu Spekulationen. Zu dünnhäutiges
Kind, dem die Eltern, Geschwister, Verwandten zu nahe auf den Leib
rückten mit acht- bis lieblos hingeworfenen Bemerkungen; oder:
ihr Freund hat sie vor kurzem erst zu einer Abtreibung genötigt,
das Arschloch; oder: noch besser: bis über beide Ohren verliebt,
starb ihr Freund bei einem fremdverursachten Autounfall; oder: am
besten: in ihren Armen; oder: sie ist lesbisch, um Geheimhaltung
bemüht, von daher isoliert, in der Isolation, verunsichert,
weil: eine Frau, die sich Männerherrschaftsansprüchen
entzieht, ist wahrscheinlich noch verachtenswerter als ein Mann,
der es mit seinesgleichen treibt. Naja, es ist nicht so, daß
die Geschichte das bestätigen würde. Aber vielleicht nur
deswegen, weil Frauen auch lesbisch verfügbar sein mußten
und waren für Männer kraft derer Gewalt und Stellung?
Naja. Oder: als Kind, laut und bewegungsdrängig, war sie die
Last ihrer Eltern, die ihr gnadenlos überfordert in derselben
Weise den Mund stopften, nämlich gnadenlos. Aber: so sieht
sie nicht aus, nicht mehr zumindest. Etwas hat sie sich in sich
zurückziehen lassen, hat sich ihre Seele in Windungen legen
lassen, hinter denen es vielleicht etwas zu entschnecken gäbe,
in die sie sich zurückgezogen hat: in Schneckenform.
Sie sitzt weit oben, hinten, Eingangsnähe. Vielleicht hatte
sie etwas bemerkt von seiner Glotzerei auf ihre Brustwarzen, jetzt
also räumliche Distanz, vielleicht war es ihr unangenehm, gemustert
zu werden von ihm, worden zu sein. Ohne Fragezeichen. Keine Frage,
welcher Frau wäre das nicht unangenehm: von einem unbekannten,
möglicherweise gar nicht mal so sympathischen Mann Gierblicke
auf dem sekundären Geschlechtsmerkmal lasten zu fühlen,
das sich evolutiv wohl tatsächlich gerade zu diesem Zweck herausgebildet
hat? Aber die Zeiten kümmern sich nicht mehr viel um Fortpflanzungsvorteile,
die Schönheitsideale, um von ideal zu sprechen, haben sich
gewandelt und drehen sich nicht mehr um das Zurschaustellen enormer
Fruchtbarkeit. Außerdem muß in diesem Zusammenhang in
aller der Lage entsprechenden Ernsthaftigkeit die Frage gestattet
sein, was evolutive Erwägungen in der spätestens unter
dem T-Shirt beginnenden Intimsphäre einer Frau verloren haben?
Dort bleiben ihre rudimentären Ausläufer in Form von Männeraugen
wahrscheinlich bestenfalls ein zu Ertragendes, weil die Situationsgefangenheit
Flucht nicht zuläßt, Protest schon schreimal nicht. Und
in irgendeiner Weise exhibitionistisch, um auch diese Möglichkeit
noch abzudecken: so sieht sie nicht aus.
Aber: sie hatte wirklich nichts bemerkt. Sie sitzt da oben, wie
sie immer oben sitzt, bis die Vorlesung zu Ende ist. Dann wird sie
lebendig, um als eine der ersten zu verschwinden.
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