Jahresausgabe 1999:

Für alle bis auf Luis

von Natascha Hoefer

 

Die Küche war das Imperium meiner Oma. Sogar meine Mutter schluckte das. Es war später Nachmittag, und meine Oma würde mit dem Kochen anfangen. Der Herd würde schon heiß sein, und ich könnt' mich dranlehnen und trocknen. Und außerdem, aber das war das Letzte, was meine Kumpels wissen dürften, liebte ich es, meiner Oma beim Kochen zuzusehen. Sie war einmalig. In der Küche bewegte sie sich wie wir uns auf der Felsentreppe: Bei allem, was meine Oma tat, schien sie gar nicht hinzusehn, sie griff einfach hierhin und dorthin, nach links, nach rechts, nach oben, nach unten, öffnete Schränke und Schubladen, hackte Zwiebeln und zerdrückte Knoblauch, rührte in großen Töpfen, wusch das Gemüse und nahm Fisch aus, schwenkte riesige Bratpfannen und streute hier und da mal 'n paar frische Kräuter und Gewürze aus Beuteln ohne Aufschrift hin, sie probierte und tat noch 'n Stück Butter oder 'ne Prise Salz dazu; und es war alles eine einzige Bewegung. Ohne Zögern, aber in aller Seelenruhe, ohne zu stressen, obwohl man manchmal glauben konnte, sie hätte mindestens sechs Hände, wie diese indische Göttin. Wenn meine Oma kochte, dann war das fast wie ein Tanz oder ein geheimes Ritual. Da zuzusehen hatte was Beruhigendes und gab einem ein warmes Gefühl. In der Küche war man wie in einer anderen Welt.
Dahin zog's mich jetzt also. Als ich eintrat, sah's so aus, als würde meine Oma mich gar nicht bemerken. Ich ging zum Ofen und setzte mich auf einen hohen Hocker, der daneben stand. Das war "mein Platz". Meine Oma werkelte einfach weiter und sagte kein Wort. Ich fing an, mich zu entspannen und in die Atmosphäre von der Küche einzutauchen. Irgendwann, als ich schon halbwegs trocken war, fragte meine Oma mich: "Eine Prügelei?" Ich sagte: "Nein." Sie fragte nicht weiter. Dafür veränderte sie ihren Tanz, und als sie Gemüse schnipselte und Wasser aufsetzte, wischte sie mir nebenher das Gesicht und die Hände ab, und als sie die Muscheln wusch und das Brot in den Ofen legte, klebte sie mir 'n Pflaster aufs Knie. "Es war ein Spiel. Und der Schuh ist weg", sagte ich. Sie schüttelte den Kopf und rührte in irgendwelchen Töpfen. Dabei sang sie leise vor sich hin. Ich liebte es, wenn sie so sang. Das und das Klappern der Töpfe und das Blubbern und Brutzeln gehörte alles mit zum warmen Küchengefühl. Lange Zeit sagte meine Oma gar nichts mehr und rührte die Meeresfrüchte in den Reis und sang nur einfach weiter. Und ich sah und hörte ihr zu. Da sah sie plötzlich zu mir rüber und hielt mir 'nen großen Löffel hin, und sie fragte: "Rührst du den Reis um?"
Ich wär' fast vom Hocker gekippt. Nie hatte ich erlebt, daß meine Oma jemand an den Reis gelassen hätte. Ich stand also auf und nahm voller Ehrfurcht den Löffel. Ganz vorsichtig rührte ich den Reis. Da gab mir meine Oma einen Klaps auf die Finger und riß mir das Teil wieder aus der Hand. "Sieh her!" sagte sie, und sie rührte den Reis viel fester als ich und drückte den Löffel tiefer hinein. "So!" Sie drückte mir den Löffel wieder in die Hand. Ich rührte jetzt so fest ich konnte, und das war gar nicht so leicht und brannte wie Hölle an meinen geschunden Handflächen. Dabei kratzte ich ziemlich am Boden vom Topf rum. Meine Oma zog den Löffel am Stiel, meine Hand und alles dran, einfach 'n Stück hoch, klopfte mir auf die Schulter und sagte: "Weiter so." Ich schwör euch, das Schulterklopfen jetzt war mir mindestens genauso viel wert wie das von den Kumpels, vorhin nach dem "toten Fisch". Ich rührte den Reis, und meine Oma fand's gut! Also rührte ich weiter, bis mir ganz heiß wurde und ich dachte, gleich fallen mir die Finger ab, aber ich ließ nicht locker, so lange, bis endlich meine Oma kam und mich zur Seite schob. Sie schöpfte einen Löffel Reis heraus und ließ ihn wieder zurückfließen und beobachtete das genau. Dann sah sie auf mich und sagte: "Gut gemacht." Ich sag' euch, ich strahlte. Das Knie, die Kratzer: Alles war vergessen. Sogar der "tote Fisch".
Als wir dann alle zusammen beim Abendessen saßen, die ganze Familie versammelt, starrten mich alle an. "Was hast du gemacht?" donnerte mein Vater. "Den Reis", antwortete meine Oma und gab meinem Vater noch 'ne Kelle voll nach, als ob nix wär'. Und damit hatte sich's. Keine weiteren Fragen, obwohl jeder gern gewollt hätte.
Natascha Hoefer
Auszug aus dem Roman (Manuskript) "Für alle bis auf Luis"