Jahresausgabe 1998

Aufbruch

von Markus Hofmann

 

2 Uhr nachts oder morgen: unter dem nördlichen Halbnebelnachtsonnenschein treffe ich die letzten Vorbereitungen - Kompaß hier, Taschen angefüllt mit den nützlichsten Dingen, was ich brauche, alles bereitet, zu allem bereit, Kompaß dort, Brille gegen das grelle Licht, Schuhe geschnürt, ein Blick; kein Regen. Habe nichts gegen Regen, werde dennoch gehen, brauche keinen Schirm, gehe dem Licht entgegen, bin schon bald ganz fort, fast fort.
Grüße den Jasmin, den alten Freund, schenke ihm einen letzten blauen Blick, ziehe meine Wurzeln aus der steinernen Erde, sage ihm meinen Dank für die Aufmerksamkeit, die rege Aufmerksamkeit, die bloße Anwesenheit, und erzähle ihm Geschichten; die große Mauer am Pflaumengarten, moosbewachsen, die Straße nach dort, der Fluß durch die gelben Täler, die Hütten, strohbedacht und kühl, die große Hitze des Tagesgestirns, vor dem man sich hüten soll, ganz bloß, und nicht zuletzt das Meer, das ewige... Alter Jasmin, meinen Dank für diese Zeiten, verlangst nach keinem Dort, bleibst hier im alten Haus.
"Ein Aufbruch ist auch immer ein Ausbruch", erzähle ich dem weitgeöffneten Fenster und atme die neugeborene Luft. Ich zwinkere den Bäumen außerhalb wissend zu. Eine winzige Schwalbe kommt heran, läßt sich auf dem Fenstersims nieder, wirft mir einen fragenden Blick zu: "Ich komme schon", sage ich und spucke in die Hände. Ein Eisvogel stolpert durch die Luft, erschreckt meine Schwalbe, läßt sich dann selbst auf dem Sitz nieder, den sie in Eile verlassen hat.
Ich stelle fest, daß meine Hände noch dunkel sind, gefärbt von Erde, von Schlamm, und reibe sie ein wenig. Der trockene Ton wird rissig, bröckelt zu Boden. "Ich gehe jetzt, bin schon fast weg", sage ich dem tiefen Haus, das um mich steht und lächelt, mit den Mauern wippt und lächelt schüchtern. "Ich werde auch ein Licht mit mir nehmen, für die Dunkelheit, falls es Nacht werden sollte, obwohl," mit herausforderndem Blick, "ich Dunkelheit schon jetzt gewöhnt bin." Ich weiß gewiß, warum es lächelt, weiß, daß es schon immer wußte, auch wußte, daß ich verunsichert sein würde, doch spreche ich mit fester Stimme, als sei alles, was ich sage, schon wahr, schon Wirklichkeit, richtig, als sei alles schon geschehen. Werde es schon in seine Schranken weisen, das angegraute Haus; denn ich weiß jetzt sogar noch mehr.
Unruhig fange ich an, von einem Fuß auf den andern zu steigen, bin ich doch fast bereits unterwegs, und doch ist keine Antwort, ist nichts bis jetzt geschehen.
"Du willst mich wohl aufhalten!", rufe ich laut in die stillen Räume, die lächelnd warten. "Das wird nicht mehr gelingen!", lache ich zurück und gehe den Weg zur Tür.
Wanderer kommen nach Sparta, oder etwas ähnliches finde ich auf einem kleinen Schild, wo ich nie zuvor es bemerkt hatte. Aber ich selbst hatte es angebracht vor langer Zeit, immer wieder.
Ich werde ihm nicht gehorchen, mit ruhigem Gewissen werde ich dieses mal, werde gleich, sofort gehen, ich werde nicht zögern, nicht einmal mich umschauen. Es wird schon gehen. Ich werde die Brücken jetzt brechen, ich werde die Geschichte jetzt berichtigen: "Du wolltest alles nie, warst immer aus Stein", schreie ich jetzt, "stolz bis zum Giebel, warst mir die Mutter aller Schatten. Was ich immer tat, war dir zu warm, ich war zu warm, zu klein, dein Parasit. Nur lag ich da und atmete, wollte nur sprechen, doch die Worte niemals. Du zwangst mich dazu, bist du doch mein Haus, mein Schutz. Warum ... warum nicht einmal jetzt, warum rechtfertigst du dich nicht einmal jetzt..."
Das Lächeln wird ein wenig blasser. Ich fange an, die Löcher in meinen Schuhen zu zählen, um gleichgültig zu wirken. "Wir waren immer sehr spartanisch ausgestattet, aber das hier ist lächerlich", rufe ich in die leeren Räume. "Überhaupt nur noch im Dämmerschlaf kann ich in deine Nähe kommen, so unzugänglich bist du mir geworden; Überhaupt nur noch dann, wenn du nicht an meinen Wunden leckst. Ich war hier stets unfrei, du warst um mich, und doch gebärdetest du dich, als sei ich Herr des Hauses, du mir dienstbar, als seist du immer gefangen gewesen."
Als einmal mehr keine Antwort erklingt, schreie ich erbitterter, und die Adern meines Kopfes pulsen schmerzhaft in meinen Ohren: "Du bist es, du hältst mich fest, ich habe dir nie etwas getan!" Stromflirren tanzt schwarzweiß vor meinen Augen: "So spartanisch war mein Gefühl niemals." Trotzig werfe ich meinen Kopf aufs Bett, spanne die Decke der Nacht über meinen Körper und schließe die Fenster meines Kopfes.