Jahresausgabe 1999:

i-Tüpfelchen

von Peter Juhnke

 

"Der Honig ist teuer, den man aus Dornen lecken muß" -
aber auch nicht billiger, wenn man ihn aus Zotten lecken muß.
Der Tag begann logisch korrekt:
Die Brummtechnik an der Wand (technische Zungen sprechen von Rauchabzugsventilator) stotterte, hielt inne, stotterte nochmals und gab als letztes Lebenszeichen ein ungehöriges, immerhin geruchloses Rülpsen von sich. Völlig klar: Wenn der blaue Dunst dann mangels Platz damit beginnt, mit sich selbst irgendwelche chemischen Reaktionen in einer Art Selbstbefruchtung einzugehen, dann, völlig klar, öffnet man die Balkontür einige Zentimeter, weil dadurch frische Luft freudig hereinströmt und weil bei einigen Zentimetern kein Zebrafink rausflutschen kann, und - völlig klar - man schaut zu, wie der Zebrafink rausflutscht; dann ist man sauer, aber - völlig klar - es war eben eine logisch zusammenhängende Kette von Ereignissen, wo eines das andere nach sich zog. Das kommt schon mal vor. Daß es kurz nach der Finkenszene an der Tür klingelte, juckte mich nicht, denn es ist bekannt, daß ich schon seit Jahren ohne vorhergehendes Telefonat die Tür nicht öffne, nicht weil ich ängstlich bin, sondern weil ich das lange Gequatsche meiner Mitmenschen unerträglich finde. Völlig klar, daß ich diesmal die Tür öffnete, weil ich meinen Mitmenschen mit meinem langen Gequatsche bezüglich des Finkenmißgeschicks unbedingt etwas vorjammern wollte. Völlig klar, es war kein Mitmensch, es war der Fernsehgebühreneintreiber, mit dem ich den üblichen Fernsehgebühreneintreiberstandarddialog abwickelte - "Fernseher schon angemeldet?" "Vorhin erst aufgestellt"- und mit meiner Unterschrift quittierte, daß ich bis in alle Ewigkeit die Quartalsgebühren löhnen werde. Ich begleitete den Nichtmitmensch nach unten, wo ich nach Post schaute, denn manchmal schreiben mir Mitmenschen, weil ich ja die Tür nicht öffne und auch nur noch selten ans Telefon gehe. Außer zwei Stellenabsagen war nur noch die Zeitung dabei, aus der ich erfuhr, daß ich mir bei Lotto, Toto, Glücksspirale, Auswahlwette und Rennquintett wieder stundenlang umsonst den Kopf zerbrochen hatte, daß Eintracht Frankfurt beim 1:1 zwei Tore schoß und im Abstiegstrudel steckt und daß die Rundfunkgebühren angehoben werden sollen. Ich überlegte, ob ich zur Entspannung zum Computer des Arbeitsamtes gehen sollte, weniger in der Hoffnung eine Stelle zu finden, sondern mehr aus Neugier, ob man neue, unterhaltsame Berufsbezeichnungen entdecken kann. Die gestrige Ausbeute konnte sich sehen lassen: Flaschner, Goldschläger, Handformer, Kopfschlächter, Kuttler, Mälzer, Täschler und Ziseleur erregten hierbei meine Aufmerksamkeit. Aber ich spürte eine Art Unausgeglichenheit in mir und dachte, es ist besser, diesen Tag in aller Ruhe zu beenden, da meine Nerven durcheinander waren und miteinander ohne mein Wissen darüber tratschten, daß dies wohl einer jener Tage sei, an denen man besser nicht aufgestanden wäre.
Die Nerven empfingen einen Hauch tiefen Friedens, als mich mein Zebrafink anpiepte. Die sind nicht blöde, diese kleinen Flieger, denn sie bemerken es, wenn einer fehlt - besonders, wenn sie nur zu zweit waren - und dann krächzen sie noch schriller als sonst. Die Gesellschaft von Meister Fink ziehe ich jederzeit der Gesellschaft meiner Mitmenschen vor, denn er stört mich nicht, wenn ich einen genervten Tag verabschieden will. Ich äffte sein Gekrächze nach und versuchte mittels kleinbürgerlicher Hilfsmittel wie Jogginghose, Filzpantöffelchen, weicher Couch, Glotze mit 33 Programmen - zappzerapp - zur Ruhe zu kommen. Während dabei meine Zehen in den Töffelchen Klavier spielten, schlappte ich zum Kühlschrank, wo ich kühles Hohl vorfand. Diese Leere kann vorkommen, doch wenn sie vorkommt, dann mache ich kein Gesicht, denn für diesen Notfall habe ich immer noch den guten Bienenhonig im Regal. Honig ist etwas ganz Genaues. Heutzutage ist doch kein Erstsemester mehr mit den Geheimnissen des Honigs vertraut. "Machen die Bienen", klar. Daß er einen Süßstoff darstellt, der von den Bienen aus Pflanzensäften unter Zusatz eigener Drüsensäfte verarbeitet wird, das ist im Semesterhirn nicht mehr drin. Aber erst, wenn man die Varianten des Honigs kennt, kann man mit dieser göttlichen Nahrung verschmelzen: Der flinke Schleuderhonig, welcher mit der Zentrifuge aus den Waben gesaugt wird, der unberührte Jungfernhonig, welcher von diesjährigen Schwärmen gedrüst wird und der Seimhonig, welcher aus den Waben raffiniert ausgeschmolzen wird. Der reinste Honig ist hierbei der Scheiben- oder Wabenhonig, der in frisch gebauten Waben verkauft wird. Meine musikalischen Zehen streckten sich in den Pantöffelchen, als ich dies Wunder der Natur im Regal entdeckte, wo es sich hinter den leeren Senfgläsern gemütlich gemacht hatte. Meine flinken, geschickten Finger umfaßten das angenehme Glatt des Glases, was meine Verdauungssäfte angenehm anregte und auch eine Art Tast-Erotik aufkommen ließ. Meine Zehen entwippten sich und wühlten sich wieder in das Filzgewebe. Plötzlich wurden meine Augen etwas durcheinander, als sie verfolgten, wie das Glas aus den geschickten, flinken Fingern flutschte, erst am unteren Rand des Regals andotzte, dann am Blech oder Stahl der Spühle andotzte, mir dabei ein lautes "Dotz!" ins Ohr pfropfte und schließlich auf dem Teppichboden zerbarst. Die Gläser sind sowas von dick und der Teppichboden ist sowas von Teppich und man weiß, da läuft nichts mit Zerspringen, aber das Auge war Zeuge und wiederholte noch einmal ungläubig in Zeitlupe das Dotz und Dotz. Das zweite Auge benötigte keine Zeitlupe, denn das langsame Ausbreiten des Honigs und dessen Einswerdung mit dem Teppich war Realzeit.
Auge in Auge stand ich mir gegenüber, während mein Kopf registrierte, ohne zu arbeiten. Nicht das leiseste Geräusch war zu vernehmen, kein Filzgescharre, kein Finkenkrächz, denn die Welt hatte aufgehört zu atmen.
Das Unbewußte ist was Feines, denn es konnte erst mal den Gedanken verdrängen, welch Mühsal es wohl sein wird, das klebrige Wunder zu entzotten, denn aus Erfahrung weiß selbst das Unterbewußtsein, daß die üblichen Verfahren - warmes Wasser "und bißchen Spülmittel bei und Salz zu" - und auch die hochmodernen Varianten - Feinwaschmittel, Wasserstoffperoxyd und Tetrachlorkohlenstoff - nicht vom gewünschten Erfolg gekrönt sind, denn der Honig wird mit der Zotte eine glückliche Beziehung in alle Ewigkeit eingehen, ein Glück ohne Ende, ein Gepappe ohne Ende. Ich verharrte als Stein und dankte meinem Unterbewußtsein. Seltsamerweise war ich nicht schmollig, so wie beim defekten Ventilator oder Zebrafink oder Glotzgebühren, nein, ich war plötzlich Stein. Auch die Akustik hat ihre Zeitlupe, denn ich hörte tief in meinem Inneren das deutliche, langgezogene "Dotz". Vieles wurde mir plötzlich klar und ich erkannte, daß mir dieses Dotz-Ereignis irgendetwas sagen will. Das Schicksal wollte mit mir sprechen, völlig klar. Behäbigen Schrittes setzte ich mich erst einmal, zündete ein Kippchen an und verfolgte gebannt die sich ausbreitende Masse. Mir wurde allmählich aus dem Stein das Hirnsausen. In einer kleinen Denkpause löffelte ich einen Teil des Klebs ab, stoppte die Prozedur jedoch sofort, da ich feststellte, daß wieder Bewegung in die Masse kam. Ich fischte neugierig eine beschriftete Scherbe aus dem Papp: "In wildwachsender Gebirgsflora sammeln die Bienen diesen erlesenen Honig. Er wird kalt geschleudert und werterhaltend abgefüllt."
Kalt geschleudert? Symbolisch gegen die Kälte der Welt? Erleichtert, die Botschaft wohl entschlüsselt zu haben, beschloß ich, mich zur Nachtruhe zu begeben. Vielleicht ist der Honigschmier bis morgen irgendwie weg. Der Kopf ist endlich frei. Es war ein hartes Stück Tag. Ich sah mich fragend im Laden: "Haben Sie warm Geschleuderten?" Mit diesem warmen Gedanken hakte ich den i-Tüpfelchentag ab. Mein Atem wurde ruhig, meine Finger wurden schwer und losgelassen.