Jahresausgabe 1999: Service
Hans-Jürgen Hilbig hat es geschafft
von Florian Michnacs
Hans-Jürgen Hilbig: "Es gibt keine Zeit mehr", Detert
Verlag, ISBN 3-934142-98-2, DM 16.20
Am fünften Dezember erscheint im Detert Verlag, der sonst
Elektronik-Fachbücher veröffentlicht, ein Band mit Gedichten
des in Heuchelheim lebenden Gießener Lyrik- und Prosaautors
Hans-Jürgen Hilbig.
Eigentlich wollte der junge Hilbig im HL-Markt in der Grünberger
Straße Lebensmittelverkäufer werden. Aber man ließ
den 1962 in unserer Stadt geborenen Dichter nicht, denn er sei "zu
schüchtern" und habe "zu lange Haare". Seine
Mutter hatte einige Zeit zuvor dem Vierzehnjährigen bei Neckermann
eine Schreibmaschine gekauft, auf der Hilbig eine "komische
Zeitung mit einem Leser" hergestellt hatte. Bereits nach einer
Woche war die Schreibmaschine kaputt. Hilbig darüber heute:
"Wenn ich die nicht gehabt hätte, die Schreibmaschine,
dann hätte ich vielleicht nie angefangen mit dem Schreiben,
das stimmt schon."
Die Gedichte des ehemaligen "Linie 8"-Mitglieds kennt
man von seinen Lesungen, aus der 1995 erschienenen Anthologie "Zungenschnalzen"
(Edition Literarischer Salon, Gießen) und aus dem Programm
von HR 3. Per Fax schickt Hilbig morgens ein Gedicht an den Radiosender,
eine der Moderatorinnen trägt es dann je nach Lust und Laune
am Mikrofon vor.
Hans-Jürgen Hilbig hat sich in seiner Lyrik einer subjektiven
Wahrheit gegenüber verpflichtet, die er in klaren, einfachen,
sogar fast bescheidenen Worten wiedergibt: "ihre feigheit ist
ihr / schutz / deshalb schießen sie / auf alles // auch auf
die zwei / deren harmonie / hier stört // mit glück /
können nationalisten / nichts anfangen" ("Bosnien
1994" aus "Zungenschnalzen"). Das Monatsmagazin FRITZ
hielt einmal den tendenziellen Inhalt der Werke Hilbigs für
schwermütig. Aber Hilbigs Gedichte sind nie pessimistisch.
Ernst zwar, wie die Bosnien-Gedichte, doch eben oft auf fast zarte
Weise humoristisch. Mal geht es um ein Pfefferminzbonbon in einer
Pfütze, mal dreht es sich um eine Pistole, den Wind und das
"in den Wind Schießen". Jedes seiner Gedichte hat
bei aller Einfachheit einen existentiellen Kern, zudem schafft es
Hilbig stets, hinter seine Werke zurückzutreten. Das sind zwei
wesentliche Ansprüche an eine "gute" Literatur. Hilbigs
eigene Favoriten auf diesem Gebiet sind übrigens Robert Walser,
Sibylle Berg und Alexander Puschkin. Deren Bücher sollen wir
alle lesen.
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