Jahresausgabe 1999: Schwerpunktthema Polen

Lyrik

von Andrzej Strak

 

verlorenes paradies

so lange wir leben
leben
wir

noch ist atlantis
nicht verloren
so lange
der blinde sänger
aus ithaka sang

und doch wissen wir alle
wenigstens seit milton
daß es verloren ist

es gibt nur
den atlantischen
un-ruhigen
ozean

aber wir wissen nicht
ob homer
und vielleicht auch milton
die fische gefressen haben
ob er selbst
ein goldfisch
oder ein blinder
haifisch ist
schließlich
ob das u-boot
sein zeitgenössischer
weißer stock ist

und noch wissen wir nicht
ob wir selbst fliegen
in der luft
schwimmen im
oder schon
unter wasser

so lange wir das nicht wissen
leben wir
noch


reine lyrik

reine lyrik ist dann
wenn du in den schlingen der worte
eine vogelfreie lerche fängst
wenn bei sonnenuntergang der zephir
sanft die phrase deines gedichtes spannt
wenn lettern schwarz wie die nacht des mittelalters
sich zu einer überraschten scheibe der aufgehenden sonne zusammenfügen
wenn du zerstreut auf dem papier
den pazifik des schlafs ausgießt
und noch
deine alte schreibmaschine
ein goldenes herz und eine leicht flatternde seele
in diesem netz hat

aber
reine lyrik gibt es nicht mehr
es gibt nichts mehr in reiner form
es gibt nur symbole
friedenstaube und haßfalke
historischer wind und hysterischer westen
roter osten und wasser in deinem teekessel
stinkt nach einem u-boot
und noch
eingesperrt in dieser konserve
das vom wind zerrissene herz
und deine schmutzige seele

mit reiner lyrik spielen nur noch
junge altmodische dichter
eingesperrt in reservaten schöner worte
gefangen in den eigenen schlingen

 

 

Übersetzung: Urszula Usakowska-Wolff

Andrzej Strak:
Geboren 1952 in Lódz. Lyriker, Kinderbuch-, Lieder- und Drehbuchautor; Vorsitzender des Polnischen Schriftstellerverbandes in Lódz; Direktor des Filmstudios "Semafor" in Lódz.
Autor zweier Lyrikbände "Was hat Seymour erlebt?" und "Spürsinn".