Jahresausgabe 1999: Service

Textperimente - Selbstdarstellung


Kein Vorwort
TEXTPERIMENTE: "..."
Eine Anthologie mit Beiträgen von Stefanie Gesell, Katrin Hund, Pia Klümpen, Astrid Reisewitz, Dieter Schmidt, Rainer Martin Schuster, Alexander Stripling und Uwe Weichsel.
Fernwald: Litblockin, 1999. 121 Seiten, 15 DM. ISBN: 3-932289-38-2

Anführungsstriche unten, Punkt, Punkt, Punkt, Anführungsstriche oben - das soll ein Buchtitel sein?!? Dies ist doch wohl eher ein Beweis der völligen Einfallslosigkeit. OH NEIN, im Gegenteil! "..." ist der strahlende, vor Freude sprachlose Sieger eines knallharten Buchtitelwettbewerbs. Er hat sich durchgesetzt gegen starke Konkurrenz wie:
- "Eselsohren" Dieser Titel war bereits bei einem anderen Buch erfolgreich. "Eselsohren" gibt es also schon, aber nicht in diesem Buch.
- "Seitensprünge" gibt es - aber nicht in diesem Buch. Das ist eine anständige Anthologie - oder?
- "S" Sigma ist das Summenzeichen in der Mathematik und wäre somit als Titel für die Anthologie einer Autor(inn)engruppe geeignet gewesen, wurde aber ausgeschlossen, weil es schon bei viel zu vielen Wettbewerben dieser Art siegreich war.
- "Summa textperimentica" wurde als Alternative für die Bezeichnung Anthologie in Erwägung gezogen, zog aber den Kürzeren, weil Anthologie kürzer ist.
- "1½" Zu eineinhalb hätte im Vorwort erklärt werden müssen, daß dieses Buch eigentlich die zweite Auflage der ersten TEXTPERIMENTE-Anthologie "abgehoben" hätte werden sollen, was aber nicht geklappt hat und weshalb die überglücklichen Besitzer der ersten Anthologie in der nunmehr zweiten vermutlich einige Überschneidungen mit der ersten feststellen werden, was für Verwirrungen sorgen könnte, die durch den Titel "1½" wohl auch nicht gemildert würden. - Diese Erklärung wollten wir uns unbedingt ersparen.
- "Frauenarzt Doktor Berg und die verliebten Krankenschwestern im Alpenglühn" wäre bestimmt ein verkaufstechnischer Abräumer geworden, schied aber aus, weil es diesen Titel bestimmt schon gibt.
- "Textilien" Damit hätten wir bereits auf der Titelseite eine Wortwiederholung gehabt -Textperimente und Textilien - das wäre für eine Wortwiederholung etwas zu früh gewesen, denn die ersten Wortwiederholungen sind eher eine Sache des Vorworts. So war allen schnell klar, daß dieser Titel nicht gewinnen konnte, weil Wortwiederholungen eher eine Sache des Vorworts sind und wir Wortwiederholungen sowieso nicht leiden können, auch nicht in Vorworten, deren Sache das ja eigentlich ist.
Textilien sind Gewebe und dies führt mit sagenhafter Eleganz auch schon zu all jenen Titelvorschlägen, die etwas damit zu tun haben, daß Text ebenfalls Gewebe heißt, was einen hübschen Bezug zu TEXTPERIMENTE hergestellt bzw. geflochten, gesponnen und gewebt hätte. Die Titel lauten: "Gewebeprobe", "Gespinste" und "Spinnereien" - und ausgeschieden sind sie, weil mit ihnen ein bildungsschweres, mindestens fünfzehnseitiges Vorwort verbunden gewesen wäre, für das eine nähere Auseinandersetzung mit der Texttheorie Roland Barthes' unerläßlich war, denn wie schrieb er so treffend in "Die Lust am Text": "Text heißt Gewebe; aber [...]". Wir fürchteten daher, den Leserinnen und Lesern könnte die Lust an TEXTPERIMENTE ausgehen. Außerdem ist gegen Ende des Vorworts das Buch als ganzes derart in Frage gestellt worden, daß wir gar nicht mehr wagen konnten, es herauszubringen. Wobei nach dem Vorwort für die Anthologie an sich ohnehin kein Platz mehr gewesen wäre, was wiederum das Problem bereitet hätte, daß Vorworte ohne etwas dahinter immer ein bißchen dumm dastehen. So war die Erleichterung groß, als die Bildungsschwere plötzlich auf den sprachkritischen Selbstzerstörungsknopf drückte, worauf Nietzsche wie aus dem Nichts kam und mit einem schweigenden Hammer das ganze Vorwort samt Titel zertrümmerte, denn: "Ein Werkzeug kann nicht seine eigene Tauglichkeit kritisieren." (Nietzsche). Und "Ein Vorwort über einen nichtssagenden Titel kann unmöglich so lang sein." (TEXTPERIMENTE). Also fiel die Entscheidung für "...". Außerdem dachten wir uns, daß bei einem solchen Titel das Vorwort auch ganz weggelassen werden kann. Darum kann es jetzt, ohne Vorwort, direkt losgehen.
Viel Spaß wünscht

TEXTPERIMENTE