Auf einem Dachboden zu Haina

von Natascha Hoefer
(Bilder aus: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751-1829). Das Werk des Goethe-Malers zwischen Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur. Hg. v. A. Friedrich, F. Heinrich, C. Holm. Petersberg: Imhof Verlag 2001.)


Impressionen in Text und Bildern zu der Ausstellung
"...die flüchtigsten und alltäglichsten Erscheinungen ? Kunst und Leben zwischen Aufklärung und Romantik",
anläßlich des 250. Geburtstags von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein in seinem Geburtsort Haina

Dialog zwischen einem kunstliebhabenden Esel und einem geistvollen Unbekannten
auf einem Dachboden zu Haina


Letzten Sonntag war ich in Haina. Eigentlich hatte ich eine alte Tante in Kassel besuchen wollen, aber an irgendeinem Abzweig muß ich mich verfahren haben. Als ich endlich, nach langem Irren über Landsträßchen, in die kleine Ortschaft kam, war ich doch erleichtert. Ich fuhr auch gleich langsamer und hielt Ausschau nach einem Menschen, mir den rechten Weg zu weisen. Doch leider war keiner da. Da hörte der Ort auch schon wieder auf; doch bevor man wieder ganz aus Haina draußen ist, biegt noch ein Seitenweg nach rechts ein, wohin, das sieht man nicht, es führt durch ein Tor hinter eine hohe Mauer. Ich folgte so etwas, was ich im Nachhinein nur eine Eingebung nennen kann, und bog hier ein. Hinter diesen Mauern mußte doch ein Mensch zu finden sein?
Auf einem größeren Platz mit hübschen Fachwerkhäusern rundherum blieb ich stehen, aber immer noch war keine Menschenseele in Sicht. Aber immerhin war es jetzt nicht mehr so naß ? ich hatte den letzten Regen noch vorhin kurz vor Haina am Kellerwald hochdampfen gesehen ? also stieg ich aus. Mein erster Gedanke war: stracks auf den Kirchturm zuzugehen, der hinter den Häuserdächern aufragte. Aber eben war sogar ein wenig Sonne hervorgekommen und ließ jetzt eine Fensterscheibe blitzen. Die war von dem Häuschen gleich neben dem Eingangstor, das ganz klein und krumm und irgendwie putzig war, mit seinen rotbraunen Fachwerkbalken und der blauen Tür ? und die Tür stand ja offen...
Das war nun eine echte Einladung, dachte ich, und freute mich schon, endlich meinen Menschen dort zu finden! Und sofort beim Eintreten sah ich: ich hatte mir ganz umsonst Sorgen gemacht, denn schon im Türrahmen vom nächsten Raum nach dem winzigen Flur sah und hörte ich gleich mehrere Leute. Beherzt trat ich über die Schwelle, und wollte eben einen älteren Herrn anreden, der auch wissend genug dreinsah ? da tippte es mir von links auf die Schulter. Es war eine Dame hinter einer Kasse, die mir noch gar nicht aufgefallen war. "Sie haben noch keinen Eintritt bezahlt", sagte sie. "Eintritt?" fragte ich. "Aber wofür denn?" "Na, Sie sehen doch wohl. Das ist eine Kunstausstellung." "Oh. Das ist schön", fiel mir dazu nur ein, weil sie mich über den Rand ihrer Brille so prüfend ansah. Aber schön war's ja wirklich, denn ich liebe Kunst, auch wenn ich nicht viel Ahnung davon habe. Also gab ich ihr die paar Münzen und begann, mich umzusehen; jetzt eben nach meinem Menschen und nach dem, was so an den Wänden hing.
Ich muß aber ehrlich sagen: das mit dem Menschen gab ich schon bald auf. Diejenigen, die da waren, wiegten sich entweder langsamen Schrittes an den kleinen, schiefen Wänden vorüber, und so ganz Auge, daß ich sie nicht stören wollte. Und die anderen standen in Grüppchen um einzelne Lieblingsstücke und unterhielten sich oder fachsimpelten, daß das gleichfalls nicht zu unterbrechen war. Aber eigentlich war mir das fast egal, und ich hätte sie sogar beinahe alle weggewünscht. Denn von Zimmer zu Zimmer wurde ich immer erstaunter, als immer ein neues Wunder zum Vorschein kam! Und so stieg ich von Stockwerk zu Stockwerk höher, und von Entzücken zu Entzücken, und fand mich endlich auf dem Dachboden ein, und das sogar allein.
Das war nun ganz magisch hier oben. Hier soll Tischbein geboren sein. Und ist man nicht noch ganz umweht davon? Beinahe unheimlich, und etwas verwirrend. Und dann, als ich eben heimlich eines der großen Blätter anfaßte, die stracks unterm Grad entlang von den Dachbalken hingen, hörte ich plötzlich das sonderbare Geräusch, das mir anzeigte, ich war nicht mehr allein. Ich drehte mich um; hinter mir, in der rechten Ecke des Speichers, stand ein unbekannter Mann, eifrig in einen Notizblock kritzelnd. Das Reiben seines Bleistifts auf dem Papier war das sonderbare Geräusch gewesen.
"Ich wollte nur mal eben sehen, ob es trocken ist", sagte ich hastig. Da sah der Fremde auf und mich mit einem Auge an, das buchstäblich unter die Haut ging. "Oh, machen Sie nur weiter", murmelte er endlich mit einem komischen Lächeln, und klopfte dabei einen leisen Rhythmus mit dem Bleistift auf den Block. "Ich dachte nur, Sie wollten mich aufschreiben", bekannte ich ihm nach kurzem Zögern; ich weiß auch nicht, warum er mir so vertrauenswürdig schien. Und weil er mich nur wieder so komisch verwundert ansah, setzte ich hinzu: "Weil es doch meistens verboten ist, und in anderen Museen immer gleich die Alarmanlage losgeht und so..." "Ah", sagte er, und während er mich ansah, begann er wieder ganz beiläufig, auf dem Block rumzukritzeln. Ich machte mich ganz lang, um nur mal einen raschen Blick darauf zu werfen; aber gerade in dem Moment drehte sich der Fremde zufällig ein Stück ab, so daß sich der Block ganz meinem Blick entzog.
"Aber Sie haben mir noch nicht gesagt, warum Sie die Papiere für naß hielten. Denn das sagten Sie doch? Sie glaubten, sie seien vielleicht nicht trocken?" "Ach, ich weiß auch nicht so genau." Ich wurde ein bißchen verlegen. "Das war nur so ein Einfall, so ein Verdacht; sehen Sie: weil sie doch so durchscheinend sind, ein wenig wie nasses, weißes Bettuch auf der Leine; und die Blätter hier hängen ja auch so von der Decke; und zugig ist es hier unter dem Dach sogar auch ? man sieht auch da und dort die Ritzen..."
"Interessant, interessant. Das ist Ihnen aufgefallen?"
"Jaja", meinte ich, und war höchst erfreut. Der Mensch war offensichtlich kein Wachmann, und außerdem tatsächlich einer, der ganz ernst nahm, was ich sagte! Dabei weiß ich wohl, daß ich eben nur so meine kleinen Eindrücke habe und von Kunst darüber hinaus wenig Ahnung, und deshalb auch nicht so weise darüber reden kann wie die Damen und Herren der unteren Etagen. Aber ehrlich gesagt, hatte ich es trotzdem die ganze Zeit schon schade gefunden, niemanden zu haben, mit dem ich meine ganzen Gedanken über die wunderbaren Überraschungen hier teilen könnte. Und jetzt aber dieser da ? das mußte wohl ein Glückstreffer sein!
"Ich finde, das ganze kleine Haus hier ist die reinste Wunderkammer, ein richtiges Schatzkästchen!" platzte es mir deshalb gleich heraus. "Das freut mich zu hören", lächelte meine neue Bekanntschaft; und schlug dabei so bescheiden die Augen nieder, daß ich auf der Stelle insgeheim ganz sicher war: das ist der Mann, der hinter allem steckt! Der hat die Ausstellung organisiert! Und ich war nicht wenig geschmeichelt, daß dieser gerade mir seine Aufmerksamkeit schenkte. "Ja", fuhr ich daher ganz ermutigt fort, "eigentlich bin ich nur ganz durch Zufall hier, aber um wieviel schöner ist es dann sogar, so überrascht zu werden!"
"Das kann ich mir ganz und gar vorstellen. Das Schöne scheint uns doch meistens ganz plötzlich, und unerwartet, und wunderbar in den kleinsten Dingen auf..."
"Jaja, genau! ? Wobei das ja nicht heißen soll, daß es sich nicht lohnen würde, auch ganz gezielt hierher zu kommen." Mein Begleiter hob erfreut die Augenbrauen. "Ich meine, na ja, da kann man vorher wissen, daß da eine Ausstellung ist oder nicht: Was es dann zu sehen gibt, kann einen dann doch nur überraschen, und entzücken!"
"Das ist ja sehr interessant und schön, was Sie da sagen. Aber erklären Sie sich doch näher. Ich würde gerne mehr von Ihren Mitteilungen hören!" ? Und sein Bleistift klopfte wieder so einen leichten, schnellen Rhythmus.
"Nun denn. Es ist doch so: Als ich vorhin unten hineinkam, hörte ich erst einmal: ‚Tischbein', und obwohl ich den Namen kannte, sagte er mir doch nicht viel. Ich verstehe nicht viel von Kunst, ich liebe Sie nur."
"Kein Problem, versteh schon. Nur weiter."
"Ja, also und das erste, was ich sah ? war ganz unten, dieser Stier. Guckt mich groß aus seinem Bild heraus an; und dann merke ich: aber eigentlich bin ich selbst ja der Ochs vorm Berg. Denn was hat das Tier da zwischen den Hörnern?"
"Ja was?"
"Eine Harfe!"
"Sie meinen: eine Lyra?"
"Jaja, genau!"
"Nun ja ? recht seltsam..."
"Ja, aber das Beste kommt noch. Die Saiten sind ja keine Saiten!"
"Ach nein? Was dann?"
"Frauen! Drei Stück. Und sehr leicht bekleidet."
"Zumindest schöne Frauen, hoffe ich doch?"
"Jaja, nicht schlecht, soweit man sehen kann. Aber sie sind ziemlich klein."
"Und sie sind die Saiten der Lyra?"
"Jaja. Ich war auch ganz erstaunt. Erst dieser Stier, und dann diese ? Lyra ?, und dann diese Frauen ? und das sage ich jetzt so in der Reihe, wie es mir aufging, aber dabei ist das Sonderbare ja gerade, man sieht's auf einen Blick. Jaja, wahrscheinlich muß es daran liegen, daß man wirklich ganz verwundert davor steht."
"Und was taten Sie dann?"
"Ich versuchte erst mal, den Text zu lesen."
"Ach, Text war da auch?"
Ich fand ja diese Art von Fragen übrigens schon seltsam: daß der Organisator so tat, als wüßte er von nichts. Ein komisches Spiel war das. Aber es machte auch Spaß, und ich war einmal in Fahrt, und antwortete deshalb:
"Jaja, da war sogar eine Menge Schrift im Raum. Zeichnungen und Schrift, ein bißchen wie hier. Nur war es eben auch alles Handschrift, und aus diesem Grunde gar nicht leicht zu lesen."
"Und was stand da so?"
"Weiß ich eben nicht. Ich konnt's ja nicht lesen, kaum zumindest. Aber das machte nichts. Es waren ja genug Bilder da."
"Ja, klar."
"Also das mit dem Wunderstier, das muß ich mir aber trotzdem erst nochmal in Ruhe durch durch den Kopf gehen lassen."
"Wunderstier... Das ist aber ein schönes Wort."
"Ja? Naja, es paßt aber auch. Weil doch der Stier ? also ohne diese komischen Hörner wäre es doch nur ein Stier. Vielleicht ganz nett gemalt, soweit ich das einschätzen kann; aber keiner, vor dem man stehen und staunen und sich fragen würde. Aber so, mit den schönen leichten Frauen in der Krone ? oder Harfe ? oder Lyra ? ja witzig eigentlich, jetzt könnte man glatt eine Geschichte daraus machen: von einem Stier, der einen in der Krone hat, und dem deshalb die schönen Frauen im Kopf herumtanzen! Fast wie auf der Nase herum!"
"Ja, das ist in der Tat witzig! Und drei Stück sind's, sagen Sie!"
"Jaja! Wie die drei Wünsche im Märchen, oder ?"
"? die drei Grazien?"
"Ja, oder die drei Spice-Girls..."
"Oder vielleicht drei Musen?"
"Oh! Oh, das war jetzt aber ein Tip! Oder? Hab ich nicht Recht?"
"Ach nein, eigentlich nur so ein Einfall..."
"Ja, aber so ? Und wenn der Stier mit der Lyra in der Krone nun ein von den tanzenden Musen geküßter ist?
"Ein von den Musen Geküßter? Welch originelle Interpretation aber auch!"
"Ja? Nett, daß Sie das sagen..."
"Ach, schon gut. Aber der Stier scheint Ihnen ja auch besonders am Herzen zu liegen?"
"Och, eigentlich gar nicht mal unbedingt. Ich weiß zwar nicht genau, was mir am besten gefiel. Aber ich schwanke, glaube ich, zwischen den drei andern Räumen."
"Ja?"
"Ja, im zweiten Stock ? die alte Treppe hinauf ist übrigens irre urig! ? also, da kommt man ja gleich in so ein Zimmer, wo schon wieder so Frauen hängen. Die eine ganze Wand entlang. Aber schön, schön sag ich! Nämlich in Farbe, so richtig edel irgendwie, und, hm... Schwer zu erklären, aber die Farben allein sind so schön wenn man reinkommt, daß man gleich ganz hin und weg ist. Auch wenn man von der Schwelle aus nicht einmal Einzelheiten sieht von dem, was auf den Bildern drauf ist."
"Aber dann traten Sie näher?"
"Und ich staunte erst recht! Da waren also nur so schöne Frauen, die ganze Reihe entlang? die schwebten einem nur so vor Augen, und zwar auf Schnörkeln und Kringeln, ich glaube, das sollten Blütenstengel sein. Nur waren als Blüten eben diese schönen Frauen dran; manchmal mehr oder weniger verschleiert, und manchmal zu mehreren; also die ganz links zum Beispiel waren zu zweit: sie saßen sich in einem riesigen Blütenkelch gegenüber ? oder es hätte auch ein Ei oder eine Badewanne oder ein geschickt geschlungenes Tuch sein können ?, und die eine hält so etwas wie eine Schriftrolle und liest der anderen daraus vor, die dabei zuhörend den Kopf auf die Hand stützt. Das Blau von dem Schnörkelmuster drumherum fand ich besonders einzigartig."
"Ach, noch mehr Schnörkel?"
"Jaja, um jedes der Frauenbilder war so was. Wie ein Teppich ein bißchen, der mit weicher Kreide auf ein Stück Stoff gemalt ist."
"Wie kommen Sie denn darauf?"
"Naja, es sah so weich aus. Etwas verschwommen. Und fast verwischt. Auch manche der zarten Landschaften im Hintergrund, so daß ? es war ganz komisch: Am liebsten hätte man selbst mit dem Finger darüber gewischt, ganz vorsichtig, und dabei ängstlich, es noch mehr zu verwischen. Das hört sich blöd an, ich weiß..."
"Blödheit muß nicht das Schlechteste auf Erden sein. Im Gegenteil. Ich meine das ganz aufrichtig."
"Naja, wenn Sie meinen. Für dieses eine Mal glaube ich's aber auch. Denn wie ich eben so davor stand und es gerne angefaßt hätte, und dabei war es schon wieder wie halb vor mir verschwunden ? da hatte ich so ein Gefühl, und plötzlich wußte ich, was das eigentlich heißt: daß einem warm ums Herz wird..."
"Oh wirklich?"
"Aber ja!"
"Ah. Sehen Sie, und jetzt fühle ich es auch."
"Ach wirklich?"
"Aber ja."
"Das ist schön."
"Das ist es."
"Soll ich weiter erzählen?"
"Nur weiter! Immer weiter!"
"Gut. Denn der nächste Raum, der war auch toll. Ich war vorher nur an ihm vorbeigerannt, sozusagen. Weil er so klein war. Die reinste Schachtel!"
"Wie es sich für ein Schatzkästchen gehört, nicht wahr?"
"Ja eben. Und jedenfalls: Jetzt finde ich ihn aber, und gehe rein, und sehe ? nur ein einziges Bild. Hängt an der einen Wand. Und ich gehe näher ? und ärgere mich, weil ich so ungeschickt vor den Scheinwerfer hinter mit getreten sein muß, daß ich mir jetzt selber im Licht stehe."
"So etwas ist natürlich ärgerlich."
"Och ja, aber diesmal nicht allzusehr. Ich glaube nämlich: das war Absicht..."
"Von Ihnen? Ich dachte..."
"Nein nein, ich meine den Scheinwerfer. Man muß da einfach reintreten, die reinste Falle. Damit der eigene Schatten so vor einen fällt ? wie dem Mann auf dem Bild seiner auch!"
"Ach, jetzt wird mir die Lage schon deutlicher."
"Ja, das Bild ist ganz toll, aber anders als die ganzen Schwebefrauen. Hier steht ein einzelner Mann auch in einem ganz leeren, aber etwas größeren Raum nachts vor einem Kaminfeuer, und das sehr nachdenklich. Und das Verrückte ist nun sein Schatten: der geht von hinter ihm über die Decke weg und dann die Wand ihm gegenüber wieder runter! Beinahe schließt sich der Kreis! Das ist Wahnsinn, nicht?"
"Och... das eben nicht, aber... es scheint mir schon wundersam. Bald unmöglich."
"Ja, ich wollte es auch nicht glauben, und hab's gleich ausprobiert. Wenn ich mich vorgebeugt und den Arm noch ausgestreckt habe, habe ich's auch geschafft, meinen Schatten bis zur Wand gegenüber zu ziehen. Nur das ist es eben: Ich mußte mich bücken und mühen ? und dem auf dem Bild fiel das Kunststück ganz mühelos zu."
"Eine Frage der Beleuchtung, wahrscheinlich. Das Licht muß schon vom rechten Fleck kommen. Aber unter uns, mein Freund: Sie sollten es nur weiter versuchen. Sie sind auf dem rechten Wege."
"Puh, also ehrlich, ich wüßte nicht, wie..."
"Eben deswegen."
"Ich weiß nicht, ob ich da jetzt so ganz mitkomme, aber ich danke Ihnen recht vielmals für das Kompliment. Es war doch eins?"
"Was sagt Ihnen Ihr Gefühl?"
"Es war."
"Na also."
"Hm. Ja. Das ist schon seltsam. Hier so zu stehen, auf einem Dachboden zu Haina. Mit all diesen geheimnisvollen Bögen Papier vor einem, bekritzelt und beschrieben über und über ? aber wir lesen sie nicht, wir reden; und trotzdem ist es gerade deswegen so, als würde man beginnen, das Ganze zu verstehen. Ich meine, den ‚Genius', der dahinter steckt. ‚Genius' sage ich jetzt, weil's gerade so passend da vor mir steht. Hier. Jetzt, wo plötzlich wieder Licht vom hinteren Fenster her durchscheint, fällt's mir erst richtig auf. Und so kann ich's auf einmal lesen!"
"Sie heißen also tatsächlich Tischbein, dem solches Gekritzel von der Hand ging, einen ‚Genius'?"
"Ja, wenn es doch hier steht!"
"Neben einem Kopf, der sehr nach Goethe aussieht."
"Hm. Das überzeugt mich nicht. Ich bleibe dabei!"
"Wobei?"
"Na dabei, daß Tischbein ein Genius war, und ist. Soviel sieht man, und soviel habe ich heute gelernt, meine ich. ? Aber was haben Sie, Sie weinen ja?"
"Hm. Heuschnupfen. Es ist die Zeit."
"Oh, Vorsicht, Sie tropfen ja auf Ihren Block! Geht's auch wirklich? Sie sind ja ganz aus dem Häuschen."
"Jaja ? nur jetzt, mein lieber Freund, muß ich leider auch gehen. Aber vorher muß ich Ihnen noch meinerseits etwas gestehen. Ich ? ich bin ? der Überzeugung: Sie sind ein Esel. Ja, mein Freund, ein wahrer Esel, wie es im Buche steht. Und ich denke, Sie dürfen ruhig stolz darauf sein, wo es so wenige von uns gibt. Kein Tag, an dem ich nicht nach einem Ausschau hielte ? doch wie oft umsonst ? mein Freund!"
"Ein Kompliment, ja?"
"Bei meiner Seele..."
"Ja, ich weiß schon. Danke, aber ich gebe zu: Sie verwirren mich. Schade trotzdem, daß Sie gehen müssen. Nur, da fällt mir eben ein: eigentlich suchte auch ich ja einen Menschen, der ? he ? wo sind Sie denn schon hin?"
Und in der Tat, mein merkwürdig liebenswerter Freund war in dem einen kurzen Moment, den ich ihn aus den Augen gelassen hatte, auch schon verschwunden.
Ja, aber das Wunderbarste kommt erst jetzt. Er verschwand nicht spurlos. Aus dem Dunkel der Ecke heraus, wo er gestanden hatte die ganze Zeit, schimmerte mir etwas entgegen. Ich bückte mich und hob es auf. Es war ein Zettel aus seinem Notizblock. Das war ja ? ich, mit langen Eselsohren und drei schönen Frauen tanzend! ? nur eben ganz schnell hingewuscht, mit vielen Schnörkeln und Kringeln drumherum ? deren längster sich von links unten im Bogen um uns Tanzende bis nach rechts oben hinaufschwang. Da aber stand: ‚Kassel', und ich erkannte: das war die Straße, die ich nehmen mußte. Ja, und mit dieser Karte fand ich auch meinen Weg aus Haina heraus.
Nur, bei aller Begeisterung ? woher hat er gewußt, wohin ich wollte? Aber vor allem: wie zum Teufel hat er es geschafft, so täuschend Tischbeins Handschrift hinzukriegen? ? Unglaublich sowas... das schiere Wunder von Genie aber auch...


***


Wenn Sie mehr wissen wollen,

· lohnt sich der Blick in das "blöde" Buch: Wilhelm Tischbein: Eselsgeschichte, oder Der Schwachmatikus und seine vier Brüder, der Sanguinikus, Cholerikus, Melancholikus und Phlegmatikus, nebst zwölf Vorstellungen vom Esel. Oldenburg 1987.

· oder auch in das lebensweise Buch: Aus meinem Leben von Wilhelm Tischbein. Hg. v. Lothar Brieger. Berlin 1922. Gleichfalls sehr lehr- und bilderreich.

· oder einfach in das Buch zur Ausstellung: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein. (1751-1829). Das Werk des Goethe-Malers zwischen Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur. Hg. v. Arnd Friedrich, Fritz Heinrich und Christiane Holm. Michael-Imhof-Verlag, Petersberg 2001. Ab dem 23. Juni erstmals in Haina erhältlich!