Surrogate Cities - eine musikalisch
- programmatische Auseinandersetzung mit dem Lebensraum Stadt.
von Klaus-J.
Frahm
Meine Intention war ... die Stadt als Text zu
lesen und einige ihrer Mechanismen und ihrer Architektur in Musik
zu übersetzen. Heiner Goebbels hat mit Surrogate
Cities ein Orchesterwerk geschaffen, das auf eindrucksvolle
Weise das Phänomen Stadt von verschiedenen Seiten
musikalisch betrachtet. Es ist eine Darstellung des Betondschungels
in all seiner Komplexität, seinen Auswirkungen im positiven
und negativen Sinne. Die optische
Umsetzung des Themas ist für mich genauso wichtig, wie die
musikalische, sagt Goebbels, der aus Neustadt an der Weinstraße
stammt.
1972 ging er nach Frankfurt, wo er Musik und Soziologie studierte.
1976 war er Mitbegründer der Gruppe Sogenanntes Linksradikales
Blasorchester, das er bis 1981 leitete. Die wichtigsten Stücke
der Formation wurden bei Trikont kürzlich als CD wieder veröffentlicht.
Bis 1988 musizierte Goebbels auch mit Alfred Harth als Jazzduo.
Von 1978 bis 1980 war er außerdem musikalischer Direktor des
Frankfurter Schauspiels. 1982 wandte sich der Experimentator und
Jazzer dem Rock zu. Mit der Experimentalrock-Band Cassiber
hatte er beachtliche Erfolge. Goebbels komponierte Musik zu Texten
des DDR-Dramatikers Heiner Müller. Bekannt geworden ist aus
dieser Zusammenarbeit vor allem Der Mann im Fahrstuhl,
eine Rockperformance voller Dynamik und Witz.
Seit den neunziger Jahren hat sich Goebbels auch als Regisseur eigener
Musiktheaterstücke einen Namen gemacht. Zuletzt mit dem Stück
Hashi Rigaki, das nach der Uraufführung in Lousanne
in Rom, Hamburg und Berlin mit großem Erfolg aufgeführt
wurde. Im Laufe seine Karriere wurde Goebbels vielfach ausgezeichnet.
Unter anderem erhielt er den Berliner Hörspielpreis, den Hörspielpreis
der Blinden, den Hessischen Kulturpreis und die Goldene Ehrennadel
der deutschen Schallplattenkritik. Das Werk Surrogate Cities,
für dass er sogar für den Grammy nominiert war, spielte
Goebbels mit der Jungen deutschen Philharmonie ein, einem demokratisch
aufgebauten Orchester der begabtesten Studenten aller deutschen
Konservatorien. Das Werk changiert zwischen sogenannter Ernster
Musik und Unterhaltungsmusik, einer Unterscheidung,
die Goebbels allerdings für seine Werke ablehnt. Er ist für
jede neue Musik offen. So sucht und findet er etwa bei Hip Hop und
Drumn Bass Anregungen für seine Kompositionen.
Surrogate Cities ist stellenweise das experimentellste und zugleich
das zugänglichste Werk des Komponisten. Die Lieder The
Horatian und In the Country of the Last Things
singt die Soul-Jazz-Sängerin Jocelyn B. Smith und in Surrogate
erklingt die Stimme von David Moss.
"Surrogate Cities" basiert auf einem Roman von Hugo Hamilton,
einem irischen Schriftsteller, der darin seine Erfahrungen als Fremder
in Berlin beschreibt.
Interview mit Heiner Goebbels (im Januar 2001)
Frage: Am Anfang ihrer musikalischen Entwicklung stand
das sogenannte linksradikale Blasorchester".
Goebbels: Ja, und zeitgleich auch, das muß man
dazu sagen, ein Jazz-Duo mit Alfred Harth am Saxophon, das 12 Jahre
anhielt; ich selbst habe Klavier gespielt. Es fing mit Improvisationen
über Themen von Hanns Eisler an, aber auch Jazz improvisationen;
es gab auch erste szenische Versuche, wir haben vier Schallplatten
produziert und waren in vielen Ländern unterwegs.
Frage: Ihr Schwerpunkt ist heute die Theatermusik?
Goebbels: Nein, das kann man so nicht sagen. Das war
biografisch mein erstes Berufsfeld und hat mich sicher auch geprägt.
Ich hab das nur Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger Jahre
intensiv gemacht. Was ich jetzt mache ist Musiktheater, also eigentlich
genau das Gegenteil. Denn Theatermusik bleibt ja in der Regel in
einer eher marginalen und illustrativen Rolle. Für eine Inszenierung
von Shakespeare, einem vier-stunden Stück, macht man dann vielleicht
zehn Minuten Musik und die wird dann auch noch im Umbau gespielt,
wenn man Glück hat....
Jetzt suche ich nach Möglichkeiten, wie man die
gewaltigen Kräfte, die die Musik hat, in einem theatralen Kontext
nutzen kann. Deswegen schreibe ich Stücke, bei denen Musik
auch szenisch eine zentrale Rolle spielt. Das sind dennoch keine
Opern im strengen Sinn, weil nicht mit dem klassischen Gestus der
Opernsänger gesungen wird, sondern es sind Musiktheaterstücke
im tatsächlichen Wortsinn, d.h. das Musikmachen der Instrumentalisten
wird auf seine szenischen Möglichkeiten und dramatischen Qualitäten
hin untersucht und eingesetzt.
F.: Da sind also dann die Musiker mit auf der Bühne,
wie bei einer konzertanten Aufführung einer Oper.
G.: Nein, eben nicht, weil es eben trotzdem Theaterstücke
sind. Theaterstücke, in denen sehr viel geschieht, das Bühnenbild
eine große Rolle spielt, viel mit Licht gearbeitet wird, und
in denen Texte vorkommen. Oft sind auch Singstimmen eingesetzt,
aber es müssen nicht unbedingt klassische sein. Ich habe zum
Beispiel Musiktheaterstücke gemacht mit afrikanischen Sängern,
mit experimentellen Stimmvirtuosen und mit griechischen Sängern
und gerade auch mit einer japanischen Musikerin gearbeitet. Ich
finde der Reichtum der menschlichen Stimme ist viel größer,
als der Ausschnitt, der in der klassischen Ausbildung seine Vollendung
findet.
F.: Ist den Surrogate Cities eigentlich auch Musiktheater?
G.: Es ist zunächst als Orchesterwerk konzipiert,
es war ja ein Auftragswerk der Jungen Deutschen Philharmonie und
der Stadt Frankfurt zur 1200 Jahrfeier. Ich habe bereits bei der
Uraufführung in Frankfurt 1994 versucht den thematischen Aspekt,
die Perspektive auf die Großstadt, auch zu inszenieren. Nicht
in dem Sinn, dass das Orchester viel agieren mußte, das geht
mit einem so großen Apparat natürlich kaum, aber mit
vielen Lichteinsätzen und mit Aufbauten, gerade bei den Percussionisten,
um auf der Bühne ein großstädtisches, zum Teil auch
industrielles Bild, entstehen zu lassen.
F.: Das Ganze klingt ja für einen Außenstehenden
sehr gesellschaftskritisch.
G.: Wieso?
F.: Surrogate Cities heißt ja so etwa Ersatzstädte, also
Ersatz für etwas Echtes, das man nicht bekommt.
G.: Ja, aber meine Position ist da nicht so parteiisch.
Natürlich ist mir die Diskussion um die Unwirtlichkeit der
Stä dte
vertraut. Ich empfinde trotzdem, die Stadt - auch wenn sie nur ein
Surrogat darstellt für etwas, das uns vielleicht einmal vorgeschwebt
hat im Sinne von Geborgenheit, Schutz und Heimat - ist d e r zeitgenössische
Lebensraum; aufregend, fordend, zugegeben. Aber die Städte
bieten auch die Möglichkeit sich dort auf produktive Weise
einzurichten, so, wie ich es ja seit 25 Jahren tue; nicht nur, weil
ich mitten in Frankfurt lebe, sondern auch, weil ich die meiste
Zeit, in der ich unterwegs bin mit meinen Produktionen, mich immer
nur in Großstädten aufhalte.
Auch die Offenheit der Konfrontation dort schätze
ich. Während man doch, selbst in Zeiten von Internet und Kabelfernsehen,
auf dem Lande, glaube ich, viele Dinge nicht mitbekommt und die
Geschwindigkeit noch eine andere ist. Auch die Produktivität,
die durch eine kulturelle Auffächerung möglich wird -
wie sie in der Bevölkerung Frankfurts stattgefunden hat in
den letzten dreissig, vierzig Jahren: diese nicht als Bedrohung
zu empfinden, sondern als Bereicherung, das ist der große
Vorteil der Stadt. Die erschütternden Übergriffe gegenüber
Ausländern finden eben nicht da statt, wo viele Menschen anderer
Kulturen und Religionen leben, sondern eher in den Gegenden, wo
diese isoliert sind. Wenn die Ausländerfeindlichkeit nicht
ohnehin für etwas ganz anderes steht, was ich eigentlich vermute...
F.: Wen sprechen Sie mit ihrer Musik denn eigentlich
an, wen wollen Sie erreichen?
G.: Zunächst ist es eine Komposition, die versucht
Erfahrungen durch Stadtbilder mit dem Publikum zu teilen. Es ist
nicht eine 'message', die ich habe. Es sind akustische Blicke auf
die Stadt; sehr lebendige, sehr unterschiedliche. Eine vielfältige,
sowohl in die historische Tiefe, als auch in die Gleichzeitigkeit
gehende musikalisch-szenische Umsetzung von Stadterfahrung, Architektur,
Geschichte.
Ich habe kein bestimmtes Publikum im Blick und die
Erfahrung mit dem sehr unterschiedlichen Publikum der verschiedenen
Aufführungen war beeindruckend. Natürlich kennt das Publikum
in Frankfurt und Berlin meine Arbeiten . Aber schon in Paris, wo
die französischer Erstaufführung im Theatre Champs Elysee
stattfand, kamen über 1000 Leute, die meine Arbeiten nicht
kannten und trotzdem damit etwas anfangen konnten. Überraschend
war die Erfahrung dort, wo 'Surrogate Cities' ins Abonnement genommen
wurde und das Durchschnittsalter bei 65 bis 70 Jahren lag, auch
positiv. Es ist kein auf eine kleine Nische oder ein kundiges Szene-publikum
bezogenes Werk, sondern es ist etwas, was trotz der Konkretion der
Klänge und trotz der Rabiatheit der Geräusche, die es
ausmachen, vermittelbar ist und einen allgemeinen Zugang erlaubt.
Sehr starke Reaktionen gab es auch in den Vereinigten Staaten, wo
im vergangenen Jahr die amerikanische Erstaufführung stattfand,
in Charleston, South Carolina, auf dem Spoleto-Musik Festival. Also
offenbar findet man einen Zugang zu dem Stück, obwohl es zeitgenössische
Musik ist.
F.: Es gibt ja auch sehr populärmusikalische
Elemente darin.
G.: Ja, zum Beispiel auch Songs mit einer popmusikalischen
Struktur. Es gibt viele literarische Quellen für diese Arbeit,
Texte von Kafka etwa, die so als Texte nicht vorkommen in dem Stück,
aber die mich angeregt haben. Auch Texte von Paul Auster und aus
dem Roman "Surrogate Cities", nach dem ich die Komposition
benannt habe, von Hugo Hamilton, einem Iren, der das Buch als Fremder
in Berlin geschrieben hat. Zwei amerikanische Sänger, die beide
in Berlin leben, singen auf dem Album: David Moss, ein unglaublicher
Stimmakrobat, und die Soulsängerin Jocelyn B. Smith.
Die CD Surrogate Cities ist bei ECM-Records,
Köln erschienen.
Artikel, Interview und Fotos von Klaus-J. Frahm
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