Das Untier im Netz

von Mark-Tell Weber

 

Fast unbemerkt wurde das Internet wieder einmal um eine Attraktion reicher. Die von dem Maler und Grafiker Wolfgang Sinwel (*1954) kreierte, mittlerweile preisgekrönte Webseite www.untier.de, ist Ulrich Horstmann gewidmet, als Namengeber fungiert sein gleichnamiges Buch (Das Untier, Konturen einer Philosophie der Menschenflucht, Suhrkamp 6. Aufl. 1998.) Horstmann, Jahrgang 49, der neben seiner akademischen Laufbahn immer auch Zeit für literarische Arbeit fand, lebt in Marburg und hat eine Anglistik-Professur an der JLU.
"Ich (unterrichte) in einem Hörsaal ohne Fenster, was mir eine sehr halbherzige Schutzmaßnahme gegen das Austreten von Geist und die Umweltbelastung durch Nachdenken zu sein scheint. Vom 21. Jahrhundert erwarte ich, daß die Türen zugemauert werden." (O-Ton Horstmann)
Sein zu großen Teilen essayistisch-aphoristisch geprägtes Werk ist von einer melancholisch-zweiflerischen Weltanschauung geprägt, aber es ist wohl besser, daß sich hier die Webseite mit einer treffenden Charakterisierung zu Worte meldet:
Horstmann bekennt sich als erklärter Gegner einer hoffnungslos optimistischen Weltsicht zur Schwermut als "schöner Kunst der Kopfhängerei". Seit 1987 unermüdliche Editionsarbeit. Erweckt unter der Prämisse einer "Kunst als Opfergang" die großen Trunkenbolde, Nichtsnutze und Lebensmüden der angloamerikanischen Literatur zu neuem Leben und führt die künstlerische Produktivität in seinem Kunsttrinker-Essay (1998) auf existenzielle Ohnmachtserlebnisse, die traumatische Erfahrung der Enttäuschung und des Mißlingens zurück. Scharfzüngiger Kritiker der "Verwertungsgesellschaft Philologie".
Nach solch illustrer Einleitung wenden wir uns peinlich gesenkten Hauptes banaleren Dingen zu und tasten uns vorsichtig in die Tiefen der Homepage vor. Erfreulicherweise bietet die Seite eine nahezu komplette Übersicht über die Werke Horstmanns und führt uns durch eine Reihe aussagekräftiger Textbeispiele, die nicht nur auf den ersten Blick charakteristisch für sein literarische Schaffen sind:
"Die Apokalypse steht ins Haus. Wir Untiere wissen es längst und wir wissen es alle. Hinter dem Parteiengezänk, den Auf- und Abrüstungsdebatten, den Militärparaden und Anti-Kriegsmärschen, hinter der Fassade des Friedenswillens und der endlosen Waffenstillstände gibt es eine heimliche Übereinkunft, ein unausgesprochenes großes Einverständnis: daß wir ein Ende machen müssen mit uns und unseresgleichen, so bald und so gründlich wie möglich - ohne Pardon, ohne Skrupel und ohne Überlebende."
Aus: Das Untier.
Damit wäre wohl auch die Frage nach dem „Wer?“ in Bezug auf das oder die Untiere geklärt. Nur zögerlich lösen wir uns vom Versprechen der nahen Apokalypse und wenden uns wieder der virtuellen Realität zu. Die Seite ist zweifellos vielversprechend, auch wenn sich einige Bereiche der Homepage noch im Aufbau befinden, vorbildlich sind jedenfalls die informativen Links und die Querverweise auf weitere Online-Veröffentlichungen Horstmanns bei www.literaturkritik.de. Auch die Stimmen der Printpresse wurden nicht ausgespart. Interessant und facettenreich sind die ausgewählten Essays über den Autor:
Von den schmalbrüstigen Propheten des Niedergangs hebt sich wohltuend der 'westfälische Untergangshofer‘ Ulrich Horstmann (Jahrgang 1949) ab, Kleistpreis-Träger des Jahres 1988 und Schwarzseher der ersten Stunde. Als "ein notwendiger Stachel in der routinierten Indifferenz unserer Lebensbewältigung" künden seine Schriften von der schonungslosen Limitation unserer Gattungsexistenz, ohne jedoch in der Postulierung des ultimativen Endes vollends aufzugehen. Infolge ihrer literarischen Differenzqualität überdauern sie das kurzatmige Geschäft mit düsteren Zukunftsprognosen.
Aus: Frank Müller, Sturz aus allen Wolken - der Schriftsteller Ulrich Horstmann.
Bevor wir mit Worten aus berufenem Munde unseren Ausflug in die blauen Abgründe der Melancholie beenden, noch einige Anmerkungen zur Homepage, denn es ist nicht nur die gründliche Recherche und die vielfältigen Informationen, die diese Webseite sehens- und lesenswert machen, sondern auch ihre professionelle und übersichtliche Gestaltung mit Navigationsleisten, Frames und Layers. Ansprechendes Design ist hier erfolgreich mit Anwenderfreundlichkeit verknüpft worden. Das einzige erkennbare Manko ist die Einschränkung auf eine relativ niedrige Bildschirmauflösung, was auf größeren Monitoren den Postkarteneffekt auslöst. (Was ist denn das für ein farbiger Fleck in der Bildschirmmitte?) Trotzdem eine in vieler Hinsicht empfehlenswerte Webseite für alle Melancholiker, solche, die es werden wollen und auch für jene prosaischen Menschen, die einfach nur kompetente Auskunft zur Person Ulrich Horstmann wünschen.
Prädikat: weiterempfehlen!

Selbstbegegnung
"So lange in den eigenen Spuren zurückgehen, bis
man auf Entgegenkommen stößt. Dann dem
Jüngeren den Vortritt lassen. Jetzt ist der Weg frei."
Aus: Einfallstor. Neue Aphorismen